Der besseren Verständlichkeit halber seien vorab zwei Begriffe erklärt: Phonem und Graphem: Phoneme sind die gesprochenen Laute, zum Beispiel <d>, <au> oder <sch>, die wir auch hören können. Grapheme sind nun die dazugehörigen Schreibzeichen. Das Phonem <au> entspricht dem Graphem „au”. Spricht man beispielsweise <schp>, schreibt man die beiden Grapheme „sp”.
(Ergänzung: Es ist nicht ganz leicht mit den Graphemen, weil sie sich abhängig vom Wort verändern. Während im Wort „Spiel” der Laut <sch> dem Graphem „S” zugeordnet wird, weil danach das „p” folgt, ist im Wort „Schule” derselbe Laut <sch> dem Graphem „Sch” zugeordnet usw. Gar nicht so einfach, aber um diesen Artikel zu verstehen, sind diese Feinheiten nicht so entscheidend.)
Nach einer Analyse von etwa 24.000 Wörtern aus literarischen Texten konnte folgende Auswertung erstellt werden:
MAN SPRICHT (PHONEM) … | MAN SCHREIBT (GRAPHEM) … | |
am häufigsten (Basisgraphem) | Ausnahmen (Orthographem) | |
… ein <a> (wie bei Rasen) | a (90%) | ah (8%), aa (2%) |
… ein <a> (wie bei Affe) | a (100%) | |
… ein <ei> (wie bei Eis) | ei (99%) | eih (1%) |
… ein <eu> (wie bei Euro) | eu (80%) | äu (20%) |
… ein <e> (wie bei Gel) | e (85%) | eh (13%), ee (2%) |
… ein <e> (wie bei Hunde) | e (100%) | |
… ein <e> (wie bei Kern) | e (90%) | ä (10%) |
… ein <i> (wie bei Riese) | ie (72%) | ih (18%), i (9%), ieh (1%) |
… ein <i> (wie bei Licht) | i (99%) | ie (1%) |
Die Tabelle zeigt exemplarisch nur einige Phonem-Graphem-Zuordnungen bei den Vokalen. Die vollständige Liste mit Vokalen und Konsonanten findet sich u.a. in OLFA 1–2 oder OLFA 3–9.
Was lässt sich aus der (vollständigen) Tabelle ablesen und welche Konsequenzen hat das?
- Es gibt viel mehr Phoneme, die mit den Vokalen a e i o u gebildet werden, als wir gemeinhin annehmen! Genau genommen sind es 19 Phoneme. Für das Graphem „e”, das sehen Sie oben, existieren drei verschiedene Phoneme, für das Graphem „i” sind es zwei Phoneme etc. Vereinfachend könnte man sagen: Jedes Vokal kann lang oder kurz gesprochen werden.
- Phoneme werden häufiger zu einigen bestimmten Graphemen zugeordnet als zu anderen. Aus der statistischen Verteilung aller untersuchten Wörter werden nun alle diejenigen Grapheme, die häufiger einem Phonem zugeordnet werden, als Basisgrapheme bezeichnet. Die Grapheme, die hingegen seltener geschrieben werden, sind die sog. Orthographeme.
Nehmen wir das Beispiel „Biene”. Man spricht <B> <i> <n> <e> (das „e” gesprochen wie bei Hunde). Sieht man nun in der Tabelle nach und schreibt entsprechend der häufigsten Wahrscheinlichkeit, also die Basisgrapheme auf, kommt man zu der Schreibung: „B” – „ie” – „n” – „e”.
Interessanterweise können Kinder bei Schuleintritt sehr differenziert Laute unterscheiden. Diese für die Rechtschreibung bedeutende Fähigkeit – Vokaldifferenzierung genannt – können Kinder im Laufe der ersten ein bis zwei Schuljahre verlernen, wenn sie unprofessionell unterrichtet werden. Ein systematisches Rechtschreibkonzept ermöglicht Kindern, sich im Anfangsunterricht ein Fundament impliziter Regeln zu erarbeiten, das auf einer guten Vokaldifferenzierung und der sicheren Zuordnung von Phonemen zu Basisgraphemen basiert.
Im Alltag, der aber oft vom lokalen Dialekt gefärbt ist, fällt es sicherlich nicht ganz so leicht, die richtige Zuordnung vorzunehmen! So sagen viele Kinder in „meiner” Schule <Plume> statt <Blume> oder <krün> statt <grün>, <wat> statt <was> etc. Schreibe so, wie du sprichst bzw. hörst, trifft daher nicht zwangsläufig zu. Hier sind wir nun als Lehrer gefordert, richtig betont und am Hochdeutschen orientiert zu sprechen, um den Kindern ein Sprachvorbild zu sein. Auch deshalb sollte das Vorlesen in der Grundschule und zu Hause nicht vernachlässigt werden! Was aber ist mit „richtig betont sprechen” gemeint? Nehmen wir das Wort „Regen“: Das erste „e“ wird lang gesprochen wie bei Gel und das zweite „e“ kurz wie bei Kern. So weit, so gut! Manche Laute sind aber nicht so gut zu hören. Dies gilt vor allem für die kurz gesprochenen Vokale, auf die wir übrigens besonders achten müssen, wie beispielsweise das <i> bei Licht oder auch <e> bei Tüte. Hier sollte nun das „e” nicht künstlich lang gesprochen werden, also nicht <Tü-teeee>, nur damit man es besser hören kann. Wenn ein Vokal „vermisst” wird, wird das Wort vom Kind in Silben geschwungen / geklatscht. Da die Kinder wissen (müssen), dass in jeder Silbe ein Vokal vorkommen muss, ergibt sich dann die Frage, welcher Vokal eben noch in die zweite Silbe gehört? Hier kann ich als Lehrer auch vorgeben und fragen: Hörst du ein (kurzes) <e> oder ein (langes) <e>?
Ja, aber warum ist es so wichtig, dass die Kinder lange und kurze Vokale sicher unterscheiden können? Ganz einfach, weil sich später viele Ausnahmen (Orthographeme mit Konsonanten) genau darüber erschließen lassen!
In den ersten zwei Klassenstufen lege ich besonderen Wert darauf, dass Phoneme und Basisgrapheme sicher zugeordnet werden. Müsste also nicht der „Igel“ in Basisgraphemem als „Iegel“ geschrieben werden? Ja, das müsste er! Bei Kindern in der voralphabetischen und beginnenden alphabetischen Phase lasse ich solche Fehler in der Regel unkorrigiert, da sie zu den Ausnahmen gehören. Wenn ich hier jetzt zu oft eingreife, störe ich nur den inneren Regelbildungsprozess des Kindes. Ab und an mache ich das Kind schon darauf aufmerksam, dass es in der „Erwachsenenschrift” noch anders geschrieben wird, aber ich tue es eben nicht ständig! Bedauernswerterweise wird in den meisten Schulbüchern der Igel mit dem hörbar langen Laut <i> zugeordnet. Später führt das dazu, dass zu viele Kinder dann „Libe Mama” statt „Liebe Mama”, „Wise” statt „Wiese” oder „vil” statt „viel” schreiben. Jede mehrere Jahre lang schon arbeitende Kollegin kennen solche Schreibungen. In Fachkreisen werden diese überaus typischen Schreibweisen auch als „Igel-Syndrom” bezeichnet.
Erst muss das Kind ein gesichertes Fundament aufbauen (die graue Spalte in der Tabelle), bevor es später an den Ausnahmen arbeiten kann! Man baut auch bei einem Haus nicht das Fundament und das Dach zugleich.
Es ist wenig hilfreich, mit der Rasenmäher-Methode alle Rechtschreibfehler in Kindertexten korrigieren zu wollen (siehe auch Fela korrigieren). Außerdem gehört immer auch ein gewisses Fingerspitzengefühl dazu, damit das Kind nicht durch zu viel Korrektur die Freude am Schreiben verliert. Hier muss man eine gewisse und von Kind zu Kind verschiedene Balance finden! Denn ist die Freude am Schreiben erst einmal verloren gegangen, wird ein Kind das Schriftliche eher vermeiden und damit weniger Schreiberfahrungen sammeln als andere Kinder. Ebenso wird ein „bockiges“ Kind, das zum Schreiben ständig gezwungen werden müsste, sich unter diesen Umständen nicht darauf einlassen, an seiner Rechtschreibung lernen zu wollen. Gelingender Rechtschreiberwerb von Kindern muss an positiven Erfahrungen mit Schrift anknüpfen.
Quelle:
Die Tabelle habe ich erstellt aus den angegebenen Einzelwerten in Siekmann / Thomé – Der orthographische Fehler (2012). Im Buch sind noch sehr viel mehr statistische Daten zu den Graphem-Phonem-Zuordnungen abgedruckt.