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Im Dia­log mit einer Kollegin

Mei­ne Kol­le­gin von der Sei­te Frosch­klas­se schreibt mir, nach­dem sie die Vide­os bei Was Jun­gen brau­chen ange­se­hen und die Zita­te gele­sen hat:

Lie­ber Marek,

du hast ja bewusst Zita­te aus dem sechs­ten Video ein­ge­fügt und dabei auch noch ein­mal unter­schie­den: fett gedruck­te und normale.

Ich selbst wür­de ger­ne ein wenig mehr dei­ne Mei­nung lesen, aber das geht mir oft so 😉 – nicht nur bei dir!

Ich selbst kann zwar zu 90 % dei­nen Zita­ten fol­gen, aber ein gro­ßes Pro­blem habe ich mit dem Zitat des Hirn­for­schers G. Hüt­her: „Man hängt der Illu­sion nach, dass man einen Lern­pro­zess vor­her struk­tu­rie­ren könn­te.” Natür­lich kann ich kei­nen Lern­pro­zess für alle mei­ne Schü­ler struk­tu­rie­ren, trotz­dem muss ich mir doch Gedan­ken dar­über machen, wie ich mei­ne Kids errei­che und somit schon eine bzw. meh­re­re Struk­tu­ren hin­ein­brin­gen – die jedoch für jede Lern­grup­pe anders aus­se­hen mag bzw. mögen.

Ich möch­te es ger­ne an einem Bei­spiel fest­ma­chen: Schü­ler A jetzt im drit­ten Schul­jahr neu in der Klas­se, er hat drei Jah­re leh­rer­zen­trier­ten Unter­richt hin­ter sich – jetzt soll er ein Wis­sens­pla­kat erstel­len und ist schon mit dem Lesen der Anlei­tung total über­for­dert – bis­her wur­de alles genau erklärt und er muss­te nur klein­schrit­tig der Leh­rer­an­wei­sung fol­gen: Schreib ab! Rech­ne aus! Lies vor!

Ihn kann ich nicht allei­ne las­sen, son­dern muss sozu­sa­gen eine Struk­tur in sei­nen Lern­pro­zess brin­gen – ihn lang­sam auf offe­ne­re For­men vorbereiten.

Für A. könn­te ich auch B. oder C. oder D. ein­set­zen – Kin­der, die es ein­fach nicht schaf­fen – aus unter­schied­li­chen Grün­den – ohne vor­ge­ge­be­ne Struk­tu­ren im offe­nen Unter­richt zu über­le­ben. Natür­lich kön­nen sie dar­in über­le­ben aber kön­nen sie wirk­lich nach der vier­ten Klas­se den Über­gang schaf­fen? Und der Über­gang ist vor­ge­ge­ben – auch wenn wir uns ihn anders wün­schen wür­den, den­ke ich, wer­den die Kin­der und Eltern manch­mal „sehr unsanft” auf einen ande­ren Boden der Tat­sa­chen geholt, wie wir Grund­schul­leh­rer uns dies wün­schen würden.

Und das bringt mich zu einem wei­te­ren Punkt: Wie sinn­voll sind unse­re Anstren­gun­gen in der Grund­schu­le was „offe­nen Unter­richt” angeht, wenn dies ab der 5. Klas­se nicht wei­ter­ge­führt wird.

Wo sind die muti­gen Leh­rer und Schul­lei­tun­gen in den wei­ter­füh­ren­den Schulen?

In der Rea­li­tät sehe ich weni­ge – viel­mehr Lehr­kräf­te (z.B. Mathe­ma­tik, so in der letz­ten Fach­kon­fe­renz im Schul­be­zirk erlebt), wel­che uns „Wunsch­lis­ten” ein­rei­chen, die den Grund­schul­un­ter­richt in Mathe­ma­tik auf das Beherr­schen der Grund­re­chen­ar­ten und das „ordent­li­che Schrei­ben” in Rechen­käst­chen redu­zie­ren möch­ten – ach nein, der rich­ti­ge Umgang mit Line­al wird auch noch gefordert 😉

Ich ant­wor­te ihr darauf:

Lie­be Kollegin,

zu mei­ner Mei­nung: Ich tei­le die Mei­nung der drei ein­ge­la­de­nen Gäs­te – im sechs­ten Video -, denn die ande­ren Tei­le habe ich nur überflogen. 😉

Du schreibst: „Natür­lich kann ich kei­nen Lern­pro­zess für alle mei­ne Schü­ler struk­tu­rie­ren, trotzdem…”

Du hast bei dir einen Jun­gen, der ein Pla­kat erstel­len soll und bis­her in einer ande­ren Klas­se alles vor­ge­kaut bekam. Mit dem Pla­kat ist er, wie du sagst, über­for­dert. Ich fra­ge mich nun, war­um soll er dann gera­de jetzt eines erstel­len? Wenn er es aber jetzt machen soll und nicht weiß, wie das geht, klar, dann wür­de ich sei­nen Lern­weg vorstrukturieren.

Zwei mög­li­che alter­na­ti­ve Wege sehe ich hier, die ich prak­ti­ziert habe – und die womög­lich im Sin­ne Hüt­hers wären:

a) Hier gehe ich von der Vor­aus­set­zung aus, dass das Kind der Erwar­tung fol­gen muss: „Erstel­le ein Pla­kat”. Mög­lich wäre in dei­nem Fall dem Kind zu sagen: Schaue dir an, wie die ande­ren es machen und pro­bie­re es dann selbst mal aus. Hole dir Hil­fe, wenn du sie brauchst bei dei­nen Mit­schü­lern und/oder bei mir. Du als Leh­re­rin struk­tu­rierst in die­sem Fall nichts vor, noch nicht ein­mal das The­ma. Wahr­schein­lich wird das Ergeb­nis des Kin­des, mit denen der Mit­schü­ler nicht mit­hal­ten kön­nen, sehr viel wahr­schein­li­cher wird es aber an die­ser über­aus kom­ple­xen Auf­ga­be schei­tern. So ging es meh­re­ren Kin­dern anfangs bei mir, als sie die Pla­ka­te für sich „ent­deck­ten”. Was wäre nun aber so schlimm dar­an, wenn das Kind schei­tert? Wenn wir vor­struk­tu­rie­ren, gehen wir stets von der unaus­ge­spro­che­nen Prä­mis­se aus: „Bit­te nicht schei­tern! Bit­te kei­ne (weni­ge) Feh­ler machen!” Ich fin­de die­se Ein­stel­lung gegen­über dem Ler­nen und dem Kind tra­gisch, weil sie der Lebens­welt des Kin­des sowohl vor UND nach der Schul­zeit fun­da­men­tal ent­ge­gen­läuft. Kuschel­päd­ago­gik, das ist in mei­nen Augen die Päd­ago­gik, die Kin­der vor Feh­lern zu bewah­ren ver­sucht. Mei­ne Auf­ga­be als Leh­rer ist es die Kin­der im Fal­le des Schei­terns auf­zu­rich­ten, wenn nötig, sie zu unter­stüt­zen, ihnen Mut zuzu­spre­chen für das nächs­te Mal, mit dem Kind zu bespre­chen, war­um es geschei­tert sein könn­te, zu über­le­gen, was es tun müss­te, um beim nächs­ten Mal nicht zu schei­tern… (pro­zess­ori­en­tier­tes Lernen)
„Der Pro­fi macht nur neue Feh­ler, der Dumm­kopf wie­der­holt sei­ne Feh­ler – der Fau­le und der Fei­ge, sie machen kei­ne Feh­ler.” (Oscar Wilde)

b) Es stellt sich mir die grund­sätz­li­che Fra­ge, wozu das Kind jetzt ein Pla­kat erstel­len soll, wenn es damit, wie du schreibst, der­zeit über­for­dert sei. Könn­te es nicht erst ein­mal nur zugu­cken? Könn­te das Kind das Pla­kat nicht auch irgend­wann spä­ter machen, sich dar­an aus­pro­bie­ren, wenn es sich dem von sich aus gewach­sen fühlt? Und dann das Gese­he­ne bei den Mit­schü­lern mit sei­ner Vor­ge­hens­wei­se in Ver­bin­dung brin­gen. Bei die­sem Pro­zess wird es noch oft genug Fra­gen haben. Gera­de dann, wenn das Kind von sich aus dazu bereit ist, nimmt es doch Anre­gun­gen und Tipps von dir viel bereit­wil­li­ger an, als wenn du es Schritt für Schritt an die Hand nimmst. Das ist zumin­dest mei­ne Erfahrung.

Bei mir ist es in sehr vie­len Berei­chen so, dass ich den Kin­dern, ver­ein­facht gesagt, sage: „Pro­biert aus, macht Feh­ler, lasst uns dar­über spre­chen und lernt dar­aus.” Dahin­ter steckt natür­lich die Hoff­nung, dass dies zu einer tief­grün­di­ge­ren Ein­sicht führt, was wie­der­um zu einem dau­er­haf­ten gesi­cher­ten Wis­sen und Kön­nen füh­ren soll.

Ich hof­fe, dass ich an dei­nem genann­ten Bei­spiel eini­ger­ma­ßen dar­stel­len konn­te, wie ich Hüt­her verstehe.

Dei­nem wei­te­ren Text ent­neh­me ich eini­ge Miss­ver­ständ­nis­se, die immer wie­der genannt wer­den, wenn es um „offe­nen Unter­richt” geht: Kin­der müs­sen auf offe­ne­re For­men vor­be­rei­tet wer­den, schwa­che Kin­der über­le­ben nicht im offe­nen Unter­richt, offe­ner Unter­richt ist strukturlos.

Der Begriff offe­ner Unter­richt ist ja zunächst ein­mal kei­ne Metho­de, sie­he Fra­gen und Ant­wor­ten zum offe­nen Unter­richt. Viel­mehr ver­birgt sich dahin­ter die Hal­tung des Leh­rers gegen­über dem Kind bzw. sei­ne Sicht­wei­se auf Schu­le und Unter­richt. Mir liegt schon seit län­ge­rem ein Arti­kel unter den Fin­gern, wo ich der Fra­ge nach­zu­ge­hen ver­su­che: „Offe­ner Unter­richt – sinn­voll für jedes Kind?” Nun, erschöp­fend beant­wor­ten kann ich das natür­lich nicht, aber ich fra­ge mich, ob es nicht viel eher hei­ßen müss­te: „Offe­ner Unter­richt – sinn­voll für alle Eltern?” (…und auf einem ganz ande­ren Blatt steht dann noch, ob es für alle Leh­rer sinn­voll ist…) Ein Kind ver­hält sich gera­de noch in der Grund­schu­le erst wenig los­ge­löst von den Mei­nun­gen und Ein­stel­lun­gen sei­ner Eltern. Die zwei­te Fra­ge könn­te ich daher sofort mit NEIN beant­wor­ten: Für Eltern, die anhal­tend von gro­ßen Sor­gen, Zwei­feln und Zukunfts­ängs­ten um ihr Kind getrie­ben sind, ist offe­ner Unter­richt unge­eig­net! Sie benö­ti­gen statt­des­sen ganz viel vor­ge­ge­be­ne Struk­tur, um dar­in Halt zu fin­den. Wie viel Struk­tur der Unter­richt braucht, damit die Kin­der dar­in arbei­ten kön­nen, den­ke ich, muss jeder aber für sich beant­wor­ten – irgend­wie(!) – im Ein­klang mit den Kin­dern, sich selbst und den Eltern. Offe­ner Unter­richt ohne Struk­tur hat nichts mit offe­nem Unter­richt zu tun. Das wird aber all­zu ger­ne in einen Topf gewor­fen. Na ja, wat der Bau­er nicht kennt…

Kom­men wir zu den Erfah­run­gen mit wei­ter­füh­ren­den Schulen.

Aus eige­ner Erfah­rung kann ich hier­zu nichts sagen! (Nach­trag: Mitt­ler­wei­le schon… sie­he u.a. Unter­richt bei mir und Wie geht es dir im 5. Schul­jahr?) Aber ich kann mich auf die­je­ni­gen beru­fen, die dar­in erfah­ren sind. Als wir mit dem Kol­le­gi­um in Eitorf-Har­mo­nie waren, sag­te der dor­ti­ge Schul­lei­ter, was die Gym­na­si­en über die ehe­ma­li­gen Har­mo­nie-Schü­ler sagen:

- Die Kin­der wol­len lernen!
– Die Kin­der sind sozi­al kompetent!
– Die Kin­der sind orga­ni­sierte Lerner!

Die­se Aus­sa­gen der Gym­na­si­en bezie­hen sich auf die Ent­lass­schü­ler nur die­ser Schu­le, denen dort ein sehr hohes Maß an Frei­heit und Mit­be­stim­mung gewährt wird. Sie sind in die­ser Form nicht über­trag­bar auf ande­re Kin­der, die woan­ders „offe­nen Unter­richt” erle­ben. Da ich mich inner­halb mei­nes mög­li­chen Rah­mens sehr an den Grund­sät­zen in Eitorf-Har­mo­nie ori­en­tie­re, hof­fe ich aber, dass die Kin­der in „mei­ner” Klas­se spä­ter ähn­lich cha­rak­te­ri­siert wer­den kön­nen. Wie die Kin­der mit dem Schul­wech­sel zurecht kom­men, wird hier beant­wor­tet: NRW Grund­schu­le Harmonie

Wie sinn­voll sind nun unse­re Anstren­gun­gen, wenn sie von wei­ter­füh­ren­den Schu­len nicht auf­ge­grif­fen wer­den? Bedau­erns­wert, wenn sie die Poten­zia­le der Kin­der nicht wahr­neh­men und brach lie­gen las­sen, sage ich. Aber an dei­ne Fra­ge gehe ich nicht so pes­si­mis­tisch her­an. Mit die­ser Ein­stel­lung wird sich nichts ver­än­dern. Ich ver­su­che Her­aus­for­de­run­gen meist opti­mis­tisch zu betrach­ten. Mich beru­higt ja schon ein­mal, dass „wir” den indi­vi­du­ell ori­en­tier­ten Unter­richt, der sich letzt­end­lich auch nur inner­halb der gege­be­nen Rah­men­be­din­gun­gen (Rah­men­plan, Bil­dungs­stan­dards) bewegt, doch recht gut auf der Grund­la­ge von Wis­sen­schaft und For­schung, also theo­re­tisch, begrün­den kön­nen. Hin­ge­gen ist der gleich­schrit­ti­ge Unter­richt – auch im Hin­blick auf die Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung der Schü­ler – schwer zu rechtfertigen.

Was ist nun, wenn die Kom­pe­ten­zen, die die Kin­der in einem indi­vi­dua­li­sier­ten Unter­richt erwer­ben, an den wei­ter­füh­ren­den Schu­len nicht fort­ge­führt wer­den? Wie du ja selbst andeu­test, ist das lei­der so. Erst vor weni­gen Tagen berich­te­te mir eine Kol­le­gin davon, was auch du oben ansprichst. Der indi­vi­du­el­le Blick auf das ein­zel­ne Kind ist in vie­len Kol­le­gi­en der wei­ter­füh­ren­den Schu­len lei­der nach wie vor ein Fremdwort.

Die Gym­na­si­en genie­ßen in unse­rer Gesell­schaft immer noch einen Hei­li­gen­sta­tus. Dar­an wer­den wir nichts ändern. Und wie ich eben höre, ergab eine Bil­dungs­stu­die, dass ca. 60% aller Schul­el­tern das Abitur für ihre Kin­der anstre­ben. Dass das Gym­na­si­um daher von nie­man­dem infra­ge gestellt wird, ist logisch. Mit die­sem Stück Papier wer­den Zukunfts­chan­cen erhofft. Wie vie­le jun­ge Erwach­se­ne haben aber das Abi und wis­sen trotz­dem nicht, was sie nun machen sol­len? Weil sie viel zu sel­ten in der Schu­le erfah­ren durf­ten, wo ihre Talen­te sind, wo ihre Inter­es­sen lie­gen? Weil sie sich zu sel­ten als selbst­wirk­sam erfah­ren durften?

Dabei muss ich an Ken Robin­son den­ken, der die ent­ste­hen­de Ent­frem­dung durch das Schul­sys­tem beklagt: „Sehr vie­le Men­schen ver­brin­gen ihr gan­zes Leben ohne eine Vor­stel­lung davon, wel­che Talen­te sie über­haupt besit­zen … Sie haben kei­ne Freu­de an dem, was sie tun. Sie hal­ten das Leben qua­si aus, anstatt es zu genie­ßen und so war­ten sie jede Woche aufs Neue auf das Wochen­en­de.” (sie­he: Eine Bil­dungs­re­vo­lu­ti­on wagen)

Schau­en wir aber auf das, was mög­lich ist, auch außer­halb unse­rer Lan­des­gren­zen, wie Ler­nen und Schu­le woan­ders funk­tio­niert, dann habe ich die Hoff­nung, dass wir in 50 Jah­ren auch in Deutsch­land noch sehr viel mehr Schu­len haben wer­den, in denen Kin­der nicht mehr nur stän­dig belehrt wer­den in der Hoff­nung auf das Abitur, son­dern auch ler­nen dür­fen und trotz­dem das Abitur machen. Die Not­wen­dig­keit „ler­nen zu dür­fen” hat wie­der­um nichts mit idea­lis­ti­schen Tag­träu­me­rei­en zu tun, son­dern beruht schlicht und ergrei­fend auf Schluss­fol­ge­run­gen aus der For­schung, sie­he Erkennt­nis­se der Neu­ro­wis­sen­schaft.

Wenn die Kin­der aus mei­ner Klas­se neben dem erlern­ten Wis­sen und Kön­nen mit der Ein­stel­lung „Ich will ler­nen!” auf die wei­ter­füh­ren­de Schu­le wech­seln, bei Miss­erfol­gen den Kopf nicht in den Sand ste­cken, wie­der auf­ste­hen und wei­ter­ma­chen, den­ke ich, habe ich schon viel erreicht.

Marek Breu­ning

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