Im Buch „Der orthographische Fehler: Grundzüge der orthographischen Fehlerforschung und aktuelle Entwicklungen” von Siekmann / Thomé wird eine Studie von Plickat aus dem Jahre 1965 vorgestellt. Plickat ließ von etwa 600 Schülern aus Volksschulen folgendes Diktat schreiben:
Ein Brief an meinen Vater
Gestern habe ich einen Brief an meinen Vater geschrieben. Vater liegt schon seit acht Tagen im Krankenhaus. Vorn auf den Brief muß man die Adresse schreiben und auf die Rückseite den Absender. Gleich gehe ich zum Postkasten. Dann kommt ein Mann mit dem Postauto und steckt alle Briefe in einen ledernen Sack. Er fährt zum Postamt. Von dort bringt der Briefträger meinen Brief ins Krankenhaus. Wie wird sich Vater freuen, wenn er liest, was ich ihm alles geschrieben habe.
(aus: s.o., Oldenburg, 2012, 75f)
Plickat teilte die Rechtschreibfehler in sechs Kategorien ein, wie sie 1958 von einer Komission zur Rechtschreibreform festgelegt worden sind.
Folgende Fehler wurden am häufigsten gemacht:
- Groß und Kleinschreibung (~25%)
- Grammatisch bedingte Fehler (~25%)
- Dehnung und Schärfung (~20%)
- Buchstabenfehler (~15%)
- Gleich oder ähnlich klingende Konsonanten (~10%)
- Zusammen- und Getrenntschreibung (~5%)
Plickat untersuchte 1974 in einer weiteren Studie die Rechtschreibfehler von über 1000 Schülern in der 9. Klassenstufe. Er kam zu folgenden Ergebnissen:
- Groß- und Kleinschreibung (~35%)
- Buchstabenfehler (~20%)
- Zusammen- und Getrenntschreibung (~13%)
- Grammatisch bedingte Fehler (~11%)
- Dehnungsfehler und Schärfung (~8%)
- s‑Laute (~5%)
- Auslaute (~4%)
- Umlaute (~3%)
- ähnlich klingende Konsonanten (~2%)
Zu den Buchstabenfehlern zählen ausgelassene, falsche, umgestellte und hinzugefügte Buchstaben. Als grammatisch bedingte Fehler werden u.a. ausgelassene, ersetzte oder hinzugefügte Wörter / Wortgruppen genannt. Ähnlich klingende oder gleich klingende Laute sind bdg bzw. ptk im Anlaut, v/f, e/eu und ä/äu. Dehnungsfehler sind beispielweise das ‑ieh und ‑äh, während zur Schärfung die Doppelkonsonanten und – merkwürdigerweise auch – das ß gezählt wird.
Was sagen uns diese Ergebnisse?
Hängen Buchstabenfehler vielleicht mit einer unterentwickelten phonologischen Bewusstheit zusammen? Wieso ersetzen Schüler in einem gehörten Text ganze Wörter / Wortgruppen bzw. fügen sie hinzu oder lassen sie sie aus (= grammatisch bedingte Fehler)? Wo müsste der Schwerpunkt eines schulischen Rechtschreibunterrichts liegen? Was könnte eher vernachlässigt werden?
Anmerkung: Mir war nicht bewusst, dass die Rechtschreibung schon Ende der 50er Jahre hätte reformiert werden sollen. Auf dieser Seite gibt es einen interessanten Einblick: Geschichtlicher Abriss der Rechtschreibung Bezeichnend finde ich diesen Eintrag für das Jahr 1973:
Auf dem Kongreß „vernünftiger schreiben” in Frankfurt setzen sich die „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft” (GEW), der „Verband deutscher Schriftsteller” und das „PEN-Zentrum Deutschland” vor allem für die Kleinschreibung der Substantive ein. Begründung: Die Rechtschreibung bevorzuge die Gebildeten und sei ein kapitalistisches Herrschaftsinstrument.
Herrschaftsinstrument hin oder her, aber jedes Diktat hätte 25–35% weniger Fehler (siehe Ergebnisse oben), wenn alles klein geschrieben werden würde, ohne dass die inhaltliche Aussage eines Textes darunter leiden müsste. In vielen Ländern der Erde bekommen sie das doch auch hin!