Jugendliche in Deutschland im Alter von 12–16 Jahren verbringen täglich etwa 7–8 Stunden mit digitalen Medien. Für schulische Inhalte bleiben demgegenüber nur etwa 3,75 Stunden Zeit übrig. Das muss Auswirkungen haben!
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer stellte so das Kernproblem dar, das er aus seiner Arbeit und aus vielen Studien mit Kindern und Jugendlichen gewonnen hat. Spitzer ist ein bekannter deutscher Psychiater, Psychologe und Neurowissenschaftler, sowie ärztlicher Direktor der Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Ulm. Seinen Vortrag, den er vor wenigen Tagen an der Uni Koblenz hielt, überschrieb er mit dem Titel Digitale Demenz, so wie sein gleichnamiges Buch.
Spitzer vermittelte in seinem etwa 1,5‑stündigen Vortrag seine große Sorge darüber, dass der starke mediale Konsum bei Kindern und Jugendlichen vielfach schon zu Entwicklungsproblemen geführt habe und zunehmend dazu führen werde. In seiner Klinik würden die Klienten immer mehr werden. Fernseher, Computer und besonders Tablets und Smartphones trugen beispielsweise zu geistigen/motorischen/sozialen Erfahrungsdefiziten, wachsender Zerstreuung und Konzentrationsproblemen bei. Multitasking im kognitiven Bereich(!) führe bei Männern und(!) Frauen sogar stets zu schlechteren Leistungen. Auffallend sei auch, dass das Allgemeinwissen der Jugendlichen abgenommen habe. Dies führt Spitzer u.a. darauf zurück, dass mittlerweile sehr viel Zeit am Computer und am Smartphone verbracht würde und die Kinder und Jugendlichen dabei emotional mitgerissen werden. Die schulischen Lerninhalte sind im Verhältnis dazu eher dröge, so dass diese durch die emotional stark aufgeladenen Erfahrungen am Computer und Smartphone „effektiv geslöscht werden”. Insgesamt könne man feststellen, dass die Fein- und Schreibmotorik von Kindern schlechter entwickelt sei als vor einigen Jahren. Mehrfach hob Spitzer hervor, dass ein Verlust an Empathie (Einfühlungsvermögen) gegenüber den Mitmenschen festzustellen sei, da u.a. Mimik und Gestik eines realen menschlichen Gegenübers fehlen. Der Empathieverlust erschien es mir, war für Spitzer besonders wichtig!
Positiv angetan war ich darüber, dass Spitzer nicht bloße Behauptungen in den Raum warf und von seinen subjektiven Beobachtungen sprach, sondern seine Aussagen mit Hilfe von zahllosen Studien aus dem PNAS, dem Science Magazine, dem Medizinerjournal The Lancet und der Zeitschrift Nature untermauern konnte. Gleichzeitig bezog er auch eigene Untersuchungen an spielesüchtigen Klienten von seinem Institut an der Uniklinik ein.
In einem aktuellen Artikel vom 31.7.2015 berichtet auch Till Reckert vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte:
Wir Kinder- und Jugendärzte sind von deutlichen gesundheitlichen und psychologischen Beeinträchtigungen überzeugt, sehen diese täglich in unseren Praxen … Wir warnen auch vor den Folgen, die die Kinder erleiden müssen von Eltern, denen ihr Smartphone wichtiger ist als der Kontakt zum eigenen Kind.
Ein Tablet ist kein Babysitter: http://www.heise.de/newsticker/meldung/Ein-Tablet-ist-kein-Babysitter-Wie-viel-Daddeln-vertragen-Kinder-2766213.html
Persönlich befürwortet Spitzer einen radikalen Medienverzicht bis zum 18. Lebensjahr. Er räumt aber ein, dass Studien darauf hinweisen, dass negative Folgen durch den Medienkonsum immer eine Frage der Dosis seien! Medien sind per se nicht schlecht, es steckt in ihnen aber eine reale Suchtgefahr. Sie haben das Potential, sich zu einer Ersatzbefriedigung zu verselbstständigen.
Meiner Meinung wäre es lohnenswert zu hinterfragen, welche Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen durch die exzessive Nutzung der technischen „Spielzeuge” befriedigt werden, um dann gezielter darauf eingehen zu können. Denn wie wir wissen, haben Verbote immer ihren ganz besonderen Reiz. Sehr wahrscheinlich befriedigen Smartphones und Tablets ein Bedürfnis nach Verbundenheit mit Freunden, Anerkennung und Aufmerksamkeit. Sie wirken so vielleicht sinnstiftend in einer als möglicherweise sinnlos wahrgenommen Zeit (fehlende / zu wenige Gestaltungsmöglichkeiten in Schule, Gesellschaft und ggfs. langfristig in Politik). Mobile Erreichbarkeit erzeugt bei Heranwachsenden aber auch ein „Gefühl des Gehetztseins”, da man immer damit rechnen muss etwas verpassen zu können.
Spitzer äußerte sich erleichtert darüber, dass fünf seiner Kinder erwachsen sind und als Kind nicht mehr die Ära der Smartphone erlebt haben. Er nimmt wahr, dass es Eltern von heute nicht leicht haben und es großer Beharrlichkeit bedarf, um die Kinder vor dem schädlichen Einfluss von digitalen Medien zu bewahren. Denn der soziale Druck ist enorm. Zugleich wird es als entlastend empfunden, wenn die Kinder Ruhe geben, sobald sie ein mobiles Gerät bekommen. Allerdings dürfen sich Eltern nicht aus ihrer Verantwortung für die Erziehung stehlen, wie es Reckert bereits weiter oben formuliert: „Wir warnen auch vor den Folgen, die die Kinder erleiden müssen von Eltern, denen ihr Smartphone wichtiger ist als der Kontakt zum eigenen Kind.” Von der Politik erhofft sich Spitzer übrigens keinerlei Unterstützung, da die technologischen Spielzeuge eine viel zu große Rolle für den Konsum und damit für die Wirtschaft haben.
Besonders gespannt war ich auf die Diskussion nach seinem Vortrag. Und es kam, wie es kommen musste! Im Hörsaal, der von vielen jungen Studenten besetzt war, heizten sich die Gemüter teilweise sehr auf. Spitzer verwechsele Korrelation und Kausalität warf eine Studentin ein. Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen, würden dies auch ohne Smartphones und Internet tun. Das denke ich mir zwar auch, fand aber Spitzers Antwort sehr einleuchtend: Alkohol ist für sich genommen kein Problem. Aber führt Alkohol bei einem Menschen aus welchen Gründen auch immer zur Sucht und zur Abhängigkeit, so wird der Alkohol selbst das Problem. Dann geht es nicht mehr um die Ursachen, um die Sucht zu bekämpfen, sondern zuerst um den Alkohol – siehe auch Dueck vs. Spitzer, sehenswert 🙂 . Es äußerten sich aber auch Studierende, die beispielsweise die Zerstreuung und leichte Ablenkbarkeit an sich selbst wahrnehmen und dies auf ihre Smartphones zurückführen. Nach der Veranstaltung erzählte mir eine Kollegin, habe sie gehört, wie sich auf dem Weg nach draußen zwei Studenten lauthals über Spitzers angeblich problematische Vortragsweise und vor allem seine sehr pointierte Art beklagt hätten.
Wie auch immer man zu den Aussagen und den von Spitzer zahlreich zitierten Studien steht, sollte man daran denken, dass es ihm zuvorderst um die Auswirkungen des (exzessiven) Medienkonsums bei den Heranwachsenden geht. Wir Erwachsenen wirken hier natürlich auch als Vorbilder. Wenn man sich schon schwer tue, an einem selbst etwas zu ändern, so Spitzer, dann sollten doch wenigstens die Kinder der Anlass dafür sein, eigene Verhaltensweisen kritisch zu überdenken (Wie wirke und was vermittle ich als Vorbild?), sich mit anderen Menschen auszutauschen (Wie machst du das? Was wäre sinnvoll?) und ggfs. Handlungsalternativen auszuprobieren.
Die wichtigsten Inhalte des Vortrags von Spitzer an der Uni Koblenz können auch in diesem Video von 2013 nachgesehen werden:
Link zu YouTube:
Digitale Demenz – Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer an der DHBW Stuttgart
Der Vortrag geht ab ca. der 7. Minute los. Die Fragerunde nach dem Vortrag beginnt ab ca. 2h 05min.
Zusätzlich empfiehlt sich noch der folgende Vortrag von 2014 „Aktuelles aus der Gehirnforschung (Teil 2)”. Mit diesen beiden Videos deckt man dann gefühlt etwa 90% der Veranstaltung in Koblenz ab.
YouTube: Gehirnforschung für die Praxis: Aktuelles aus der Gehirnforschung Teil 2
Übrigens, Spitzer erklärt im ersten Video auch, weshalb es so fatal ist, wenn Schüler unter Angst in der Schule lernen und es lernpsychologisch falscher nicht sein kann, wenn man von Schule als dem „Ernst des Lebens” spricht!
Weiterführendes
- Manfred Spitzer: Digitale Demenz
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Dueck vs Spitzer / Digitale Potenz vs Digitale Demenz (Dueck ist ehemaliger IBM-Manager in Deutschland. Seine unzähligen Vorträge halte ich für überaus sehenswert auch und vor allem für Lehrer!!)