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Was ist Lernen?

In den letz­ten Jah­ren habe ich immer wie­der fest­stel­len kön­nen, dass unse­re Vor­stel­lun­gen, die wir mit „dem Ler­nen” gemacht haben, ent­schei­dend dafür sind, wie Leh­ren aus­zu­se­hen hat. So rich­tig bewusst wur­de mir das bei die­ser Begegnung:

Vor eini­ger Zeit unter­hielt ich mich mit jeman­dem über Schu­le. Ich erzähl­te, dass ich im Inter­net von einem Kind gele­sen hät­te, das bis weit hin­ein in die 2. Klas­se ein Pro­blem mit der rechts-links-Unter­schei­dung hat­te. Mein Gegen­über ant­wor­te­te, dass das selbst­ver­ständ­lich(!) die Schuld des Leh­rers sei, wenn ein Kind so lan­ge dafür bräuch­te. Offen­bar hät­te das Kind nicht aus­rei­chend lan­ge und aus­führ­lich geübt.

Ich wuss­te zufäl­li­ger­wei­se von die­sem Men­schen, wie sei­ne Erfah­run­gen mit „Ler­nen” aus­sa­hen. Insti­tu­tio­nel­les Ler­nen war bei ihm auf das Wie­der­ho­len und Ein­üben von vor­ge­ge­be­nem Stoff redu­ziert. Das ist das Bild von Ler­nen, wie es sich hart­nä­ckig in der „kol­lek­ti­ven Vor­stel­lung” hält. Es ist das Bild davon, dass das Gehirn wie ein Mus­kel funk­tio­nie­ren wür­de. Die­se Erfah­run­gen sind es, die sei­ne Vor­stel­lung von „Ler­nen” geschaf­fen haben. Sie sind es, die ihn annehm­nen las­sen, dass Ler­nen in der Schu­le ganz selbst­ver­ständ­lich auch heu­te so zu funk­tio­nie­ren habe! Aber…

Die Kol­le­gin L. Rosa beschreibt, wie ich fin­de, äußerst genau, wie wohl vie­le von uns – auch ich – „Ler­nen” erlebt haben.

Ler­nen ist sys­te­ma­tisch, insti­tu­tio­nell und pro­fes­sio­nell ange­lei­tet. Ler­nen ist die kom­ple­men­tä­re Sei­te des Wis­sen (auf-)nehmenden Schü­lers von der (ab-)gebenden Sei­te durch einen Leh­rer in einem wis­sens­ver­mit­teln­den Lehr-Ler­nen-Ver­hält­nis. Dazu gehört ein Wis­sens­be­griff, der sich beschränkt auf kogni­ti­ves Wis­sen, auf „Lehr­buch­wis­sen“, das in einem Kanon von Fächern gelis­tet ist. Die dazu gehö­ri­ge Lern­form ist für alle gleich „Wis­sen auf­neh­mend“; die Sozi­al­form: jeder für sich iso­liert, aber alle das­sel­be gleich­zei­tig im glei­chen Lehr“gang“; Ler­nen fin­det zu fest­ge­setz­ten Zei­ten statt – und nur dann –, in einem dafür stan­dar­di­siert aus­ge­rüs­te­ten Raum – und nur dort. Lern­ergeb­nis­se wer­den vom Leh­rer bewer­tet; gewünsch­te Lern­ergeb­nis­se bzw. –zie­le sind dem Ler­nen­den von außen und von vor­ne­her­ein festgelegt.

Quel­le: Klei­ner Stoff­ka­non für’s 21. Jahrhundert

Als ich die­sen Abschnitt las, muss­te ich spon­tan wie­der an mei­ne Begeg­nung oben den­ken. Denn die­se ganz all­täg­li­chen Erfah­run­gen sind es, die sich in unse­rem Gehirn zu Ein­stel­lun­gen und Hal­tun­gen ver­dich­ten (vgl. Hüt­her). Der Erfah­rungs­aus­tausch mit befreun­de­ten Kol­le­gin­nen bestä­tig­te mir auch, wie nach­hal­tig sich gemach­te Erfah­run­gen im Kin­des- und Jugend­al­ter bis weit Erwach­se­nen­al­ter hin­ein hal­ten. Seit­dem ach­te ich bei Gesprä­chen über „Schu­le” sehr genau dar­auf, wel­ches Bild mein Gegen­über von „Ler­nen” hat, wel­che posi­ti­ven und nega­ti­ven Erfah­run­gen ihn geprägt haben. Denn erst, wenn ich mir des­sen bewusst bin, kann ich viel geziel­ter auf den Ande­ren ein­ge­hen, ihn in sei­nen Ängs­ten, Sor­gen und Nöten ver­ste­hen, ihm Alter­na­ti­ven auf­zei­gen – wohl­wis­send, dass auch das nicht immer ange­nom­men wer­den wird. Dazu sit­zen die eige­nen Erfah­run­gen jedes Ein­zel­nen ein­fach viel zu tief!

Was ver­ste­he ich nun unter Lernen?

Mein Ver­ständ­nis von Ler­nen basiert – natür­lich – auf mei­ner eige­nen Bio­gra­fie, mei­nen Erfah­run­gen als Leh­rer, Erfah­run­gen von ande­ren Kol­le­gIn­nen und selbst­ver­ständ­lich den Erkennt­nis­sen aus For­schung und Wis­sen­schaft. Ich will an die­ser Stel­le zunächst nur ein paar Aspek­te von Ler­nen stich­punkt­ar­tig nen­nen, die ich bei Gele­gen­heit aus­führ­li­cher beschrei­ben wer­de. Die Lis­te ist und kann prin­zi­pi­ell nicht unvollständig

  • Ler­nen ist per­so­nell / indi­vi­du­ell, ver­schie­de­ne Sach­in­hal­te sind nötig! (vgl. L. Rosa)
  • Ler­nen muss „ech­ten Sinn” machen, Iden­ti­fi­ka­ti­on schaffen.
  • Ler­nen lässt das Kind Selbst­wirk­sam­keit spü­ren. („Ich kann [doch] was!”)
  • Ler­nen voll­zieht sich mit Mit­schü­lern und Leh­rer, erfolgt kol­la­bo­ra­tiv (vgl. L. Rosa)
  • Ler­nen muss selbst­re­fle­xiv sein: Was gelang mir gut? Was kann ich beim nächs­ten Mal bes­ser machen?
  • Ler­nen benö­tigt Feed­back durch Leh­rer und Mit­schü­ler. (vgl. P. Struck)
  • In den Bil­dungs­stan­dards / Rah­men­plä­nen fin­det ein Per­spek­ti­ven­wech­sel weg vom alten Schwer­punkt des Aus­wen­dig­ler­nens statt, pro­ze­du­ra­les Wis­sen gewinnt an Bedeu­tung, Stich­wort „lebens­lan­ges Lernen”.
  • Ler­nen ist eigen­ver­ant­wort­lich (vgl. W. Hövel in „Ein selbst­ver­ant­wor­te­tes, aber staat­li­ches Modell”), d.h. Ler­nen kann der Leh­rer dem Kind nicht abnehmen.
  • Ler­nen muss Freu­de berei­ten – frus­triert und / oder unter Angst lernt es sich schlecht.
  • Beim Ler­nen darf nicht stän­dig auf den Schwä­chen her­um­ge­rit­ten wer­den. Neu­lich las ich irgend­wo – sinn­ge­mäß: ‚Wer immer nur an sei­nen Schwä­chen übt, wür­de maxi­mal mit­tel­mä­ßig dar­in. Wer an den Stär­ken arbei­tet, kön­ne dar­in aber spit­zen­mä­ßig wer­den.’ Da steckt ein wah­rer Kern drin.
  • Ler­nen und Moti­va­ti­on sind eng mit­ein­an­der ver­bun­den bedin­gen sich gegen­sei­tig. (u.a. M. Spit­zer)
  • Ler­nen benö­tigt gute Bezie­hun­gen, eine feh­ler­to­le­ran­te Lernatmosphäre.
  • Ler­nen benö­tigt Auf­ga­ben, an denen Kin­der wach­sen kön­nen. (G. Hüther)
  • Zum Ler­nen gehört par­ti­zi­pie­ren­de Medi­en­nut­zung vor allem im Zuge des Leitmedienwechsels!
  • Ler­nen ermög­licht das Erler­nen von Ver­fah­ren / Metho­den, um selbst­stän­dig ler­nen zu können.
  • Ler­nen lässt die Talen­te jedes Kin­des ans Licht her­vor­tre­ten (vgl. Sir Ken Robin­son)
  • Gelin­gen­des Ler­nen benö­tigt lern­för­der­li­che Bedingungen.
  • Leh­rer bie­tet Lern­an­ge­bo­te an, regt an.
  • Aus­wen­dig­ler­nen und Ein­üben ist nur ein Teil­be­reich des Ler­nens, der wich­tig wird, wenn ein Kind die Bedeu­tung eines Inhalts erfasst hat.
  • Ein­la­den, Ermu­ti­gen, Begeis­tern (vgl. Vor­trag von G. Hüt­her)
  • Beleh­ren­des Ler­nen von oben „funk­tio­niert” – zumin­dest kurz­fris­tig. (vgl. P. Struck)
  • Ler­nen ist auch das Erler­nen von his­to­risch und räum­lich beein­fluss­tem „gesell­schaft­li­chen Faktenwissens”.

Das Wich­tigs­te ist: Ler­nen gelingt dann dau­er­haft, wenn ein Kind sich für etwas begeis­tern kann. In die­sem Fal­le wird näm­lich ein Lern­dün­ger im Gehirn aus­ge­schüt­tet, der bewirkt, dass sich neue Struk­tu­ren im Gehirn bil­den. Ler­nen wird jetzt näm­lich als etwas erfah­ren, das dem Kind Sinn gibt, das Freu­de bereitet.

Kann man Ler­nen „machen”?

Ein Leh­rer kann ein Kind auch gegen sein Inter­es­se zum „Ler­nen” brin­gen. Dazu haben wir als Leh­rer ein brei­tes Reper­toire in Form von Noten, Stra­fen, Ver­bo­ten, Zusatz­auf­ga­ben, Eltern­ge­sprä­chen, Auf­la­gen etc. Wenn ein Kind Bekannt­schaft mit die­sen Maß­nah­men gemacht hat, wird es sich in vie­len Fäl­len frü­her oder spä­ter die­sem Druck beu­gen und den Anwei­sun­gen des Leh­rers eher fol­gen. Es wird „sei­ne Auf­ga­ben machen”. Das sieht dann so aus wie Lernen.

Auch ohne den oben genann­ten Lern­dün­ger, der ein Gemisch aus neu­ro­plas­ti­schen Boten­stof­fen ist, kann natür­lich „gelernt” wer­den. So sind, den­ke ich, vie­le irgend­wie durch die mehr oder weni­ger schö­ne und inter­es­san­te Schul­zeit gekom­men. Ein­ge­trich­ter­tes ist aber oft sehr flüch­tig, wird schnell ver­ges­sen, weil es ohne den Lern­dün­ger kei­ne Struk­tur­ver­än­de­run­gen im Gehirn gibt. Wer unter Druck und Zwang ler­nen muss, lernt gleich­zei­tig die ungu­ten Gefüh­le mit, die mit die­ser Situa­ti­on ein­her gehen. Die­se Gefüh­le füh­ren dazu, dass das Ein­ge­üb­te gera­de noch wie­der­ge­ge­ben, aber nicht mehr mit­ein­an­der in Bezie­hung gesetzt wer­den kann, um damit Pro­ble­me zu lösen (feh­len­des Trans­fer­ver­mö­gen) (vgl. Erkennt­nis­se der Hirn­for­schung). Die Angst wirkt also hem­mend auf die Ver­net­zung des Stof­fes. Gut, für eine Note 4 oder 3 mag das bei dem einen oder ande­ren Leh­rer even­tu­ell rei­chen. Oft macht das, was gelernt wer­den soll, für den Ein­zel­nen kei­nen Sinn. Nicht umsonst befin­den sich wohl (zu) vie­le Schü­ler wäh­rend des Vor­mit­tags phy­sio­lo­gisch kurz vor dem Tief­schlaf. In die­sem Zusam­men­hang wird auch vom „Buli­mie-Ler­nen” gespro­chen. Kurz­fris­tig, zwei bis drei Tage vor­her, wird dabei für einen Test / eine Note gelernt – ein ver­tie­fen­des Ler­nen ist struk­tu­rell bedingt gar nicht nötig. Danach wird das Antrai­nier­te mehr oder weni­ger wie­der schnell vergessen.

Was sind „lern­för­der­li­che Bedingungen”?

Ler­nen kann nicht ver­ord­net oder in Zeit­fens­ter gequetscht wer­den, weil sich, wie Spit­zer es sagt, Ler­nen ohne­hin immer voll­zieht. Lern­för­der­li­che Bedin­gun­gen im Unter­richt bei mir sehe ich im Kon­text von lang­fris­ti­ger Eigen­ver­ant­wor­tung! Damit mei­ne ich nicht eine schein­ba­re Eigen­ver­ant­wor­tung, die sich dar­in kenn­zeich­net, dass ein Kind gelernt hat, eine vom Leh­rer vor­ge­ge­be­ne Men­ge an Pflicht­auf­ga­ben zu erle­di­gen, sich Arbeits­auf­trä­ge und Arbeits­blät­ter aus­zu­su­chen und alles der Erwar­tung des Leh­rers ent­spre­chend zu erle­di­gen, ihm letzt­end­lich zu gefal­len. Eigen­ver­ant­wor­tung führt in mei­nem Ver­ständ­nis zur „Ich will Lernen!”-Haltung, und zwar auch ohne einen Leh­rer, der mir sagen muss, was ich zu tun und zu las­sen habe. Dabei über­neh­men die Kin­der Ver­ant­wor­tung unter ande­rem für eige­ne The­men und ihre eigen­stän­di­ge Er- und Bear­bei­tung. Sie ach­ten auch dar­auf, dass am Ende vor­zeig­ba­re Ergeb­nis­se her­aus­kom­men. Die­se Ver­ant­wor­tung für sich, für sein eige­nes Ler­nen kann nicht geteilt wer­den, wie ein Vater eines Kin­des neu­lich zu mir sag­te. Wie sehen nun lern­för­der­li­che Bedin­gun­gen aus, in denen sich Eigen­ver­ant­wor­tung ent­wi­ckeln kann.

  • Leh­rer macht Lernangebote
  • Kin­der erhal­ten Raum für eige­ne Interessen
  • Kin­der erfah­ren den Leh­rer als jeman­den, der sich nicht stän­dig zu beleh­ren ver­sucht, son­dern als jeman­den, der sie unter­stützt und ihnen hilft.
  • Leh­rer bie­tet schwa­chen Schü­lern inhalt­li­che und per­so­nel­le Orientierung
  • Leh­rer und Schü­ler geben Feed­back zu Arbeitsergebnissen
  • Anre­gun­gen geben

die die Wahr­schein­lich­keit für Ler­nen erhö­hen, wie Lisa Rosa schreibt. Auch Sir Ken Robin­son erklärt es aus­führ­lich in sei­nem Vor­trag: „Wir brau­chen ein Bil­dungs­mo­dell, das mehr auf den Prin­zi­pien der Land­wirt­schaft fußt. Wir müs­sen erken­nen, dass das Auf­blü­hen von Men­schen kein mecha­ni­scher Pro­zess ist”, der line­ar geplant und gemacht wer­den kann.

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