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Rech­nen in Klas­se 2

Gemäß den alten Lehr­plä­nen für Mathe­ma­tik wur­de mit Kin­dern im 2. Schul­jahr im Zah­len­raum bis 100 gerech­net. Obwohl uns die neu­en Rah­men­plä­ne ange­sichts der zum Teil enor­men Leis­tungs­un­ter­schie­de in den Klas­sen mehr Spiel­raum zuge­ste­hen, hal­ten vor allem die Schul­buch­ver­la­ge an der Tra­di­ti­on mit den Zah­len­räu­men fest:

Klas­se 1: Zah­len­raum bis 20
Klas­se 2: Zah­len­raum bis 100
Klas­se 3: Zah­len­raum bis 1000
Klas­se 4: Zah­len­raum bis 1.000.000

Die­se Woche nahm ich an der 48. Jah­res­ta­gung der Gesell­schaft für Didak­tik der Mathe­ma­tik (GDM) teil, wo u.a. kri­ti­siert wur­de, dass in Schu­len an die­sen Zah­len­räu­men fest­ge­hal­ten wer­de. Erfah­run­gen vor allem aus der Dys­kal­ku­lie-The­ra­pie in Öster­reich sprä­chen für eine Öff­nung der Zah­len­räu­me. Die Mathe­ma­ti­ker sind hier ganz offen­bar der Schul­rea­li­tät um eini­ge Jah­re vor­aus. Wenn ich mir „mei­ne” Klas­se anse­he, befür­wor­te ich es, wenn wir auf die für die Kin­der künst­lich erschaf­fe­nen Zah­len­räu­me ver­zich­ten wür­den. So habe ich in der der­zeit 2. Klas­se meh­re­re Kin­der, die pro­blem­los wie Dritt- und Viert­kläss­ler rech­nen, aber auch Kin­der, die bei einer Auf­ga­be wie 11–9 trotz inten­si­ver Unter­stüt­zung in Schu­le und zu Hau­se noch „nach­den­ken” müssen.

1. Grund­le­gen­des zu den Lernstufen

Eine ganz wesent­li­che Erkennt­nis kogni­ti­ven Ler­nens ist die Unter­schei­dung zwischen

  1. Ver­ste­hen / Begrei­fen und
  2. Auto­ma­ti­sie­ren / Üben .

Hier­zu habe ich zuletzt im Arti­kel Blitz­rech­nen etwas geschrie­ben. Ganz all­ge­mein kann gesagt wer­den: Wer nicht ver­stan­den hat, was er tut, der kann nicht auto­ma­ti­siert üben. Zur Auto­ma­ti­sie­rung zählt auch das Kopf­rech­nen. Hier bege­hen vor allem die Eltern einen sehr gro­ßen Feh­ler, die mit ihrem Kind zu früh Kopf­rech­nen üben! Auf der Mathe-Tagung sag­te ein Refe­rent: Jeder Leh­rer ken­ne wohl den Satz: ‚Ja, aber zu Hau­se kann mein Kind es’. Was hier in vie­len Fäl­len zu Hau­se gesche­he, sei fol­gen­des: Dem Kind wird ein ganz bestimm­ter Weg (ein Koch­re­zept) gezeigt und das Kind soll nun die­sen Weg von „Mama oder Papa” nach­ge­hen. (Ler­nen durch Nach­ah­men ist wenig hilf­reich bei kogni­tiv anspruchs­vol­len Pro­zes­sen, bei denen es um Ver­ste­hens­pro­zes­se geht.) Am nächs­ten Tag in der Schu­le ist die­ses Koch­re­zept wie­der ver­ges­sen, weil es letzt­end­lich viel zu abs­trakt ist ins­be­son­de­re für rechen­schwä­che­re Kin­der! Zu Hau­se erklä­ren es die Eltern dann noch ein­mal und es heißt dann wie­der: „Ja, aber zu Hau­se kann mein Kind es.”

Was dem Kind hier fehlt, ist ein prak­ti­sches Ver­ständ­nis des Rechen­we­ges (Grund­vor­stel­lun­gen[!!], sie­he unten). Um die­se Grund­vor­stel­lung kommt kein Kind her­um, wenn es lang­fris­tig sicher rech­nen will und soll! Denn, sobald sich das Kind vor­stel­len kann, wie es im Kopf mit geeig­ne­tem Mate­ri­al rech­net, kann es die­ses Wis­sen viel eher aktivieren.

Für den Auf­bau von Grund­vor­stel­lun­gen braucht es

  1. pas­sen­des Anschau­ungs­ma­te­ri­al, das RICHTIG genutzt wird,
  2. Zeit – bei man­chen Kin­dern viel Zeit – und
  3. die rich­ti­ge Vorgehensweise.

Mit Wor­ten wie „Komm, ich erklä­re(!) dir, wie du es machen musst” ist vor allem rechen­schwa­chen Kin­dern nicht geholfen.

2. Grund­le­gen­des zu den Zahlen

Natür­li­che Zah­len las­sen sich aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven betrach­ten. Man spricht hier vom sog. Zah­l­aspekt. Die für die­sen Arti­kel rele­van­ten Zah­l­aspek­te sind

* Der ordi­na­le Zahlaspekt

Der ordi­na­le Zah­l­aspekt meint die Ord­nung der Zah­len, so wie sie bei­spiels­wei­se am Zah­len­strahl herrscht. Die Zah­len sind hier auf­ge­reiht, haben Vor­gän­ger und Nach­fol­ger u.v.a.m.

* Der kar­di­na­le Zahlaspekt

Der kar­di­na­le Zah­l­aspekt betrach­tet immer die Men­ge von Zah­len, zum Bei­spiel die Anzahl der Äpfel und Bir­nen auf der Wie­se, die Anzahl der Kin­der in einer Klas­se etc.

3. Wie über­prü­fe ich, ob ein Kind einen Sach­ver­halt ver­stan­den hat?

Hier hilft mir das Kon­zept der Grund­vor­stel­lun­gen weiter.

Es beschreibt einen Ansatz, der vor­han­de­ne, kor­rek­te Vor­stel­lun­gen der Schü­ler bestärkt und neue Vor­stel­lun­gen erfahr­bar macht [indem mit kon­kre­tem Mate­ri­al gear­bei­tet wird. Daher auch der Begriff „beGREI­FEN” (Anm. Breu­ning)]. Das Ziel ist ein ver­ständ­nis­ori­en­tier­ter Erwerb von mathe­ma­ti­schen Begrif­fen und Ver­fah­ren. (Quel­le: Wiki­pe­dia)

Grund­vor­stel­lun­gen müs­sen Kin­der in die­sen drei Berei­chen erwerben:

  1. Zah­len (z.B. die Zah­l­aspek­te oben(!!), Dezi­mal­schreib­wei­se, Zah­len kön­nen zusam­men­ge­setzt und wie­der in ver­schie­de­ne Ein­zel­tei­le zer­legt wer­den, z.B. 25 besteht aus 2 Z und 5 E, aber auch aus 1 Z und 15 E oder nur 25 E)
  2. Rechen­ope­ra­tio­nen (z.B. kann das Minus-Zei­chen bedeu­ten: Weg­neh­men, Ergän­zen oder Ver­glei­chen, indem der Unter­schied gebil­det wird)
  3. Rechen­stra­te­gien (z.B. Ver­dop­peln, Hal­bie­ren, Weiterzählen)

Ganz zen­tral ist, dass ein Kind mir erklärt, WIE es rech­net. Dazu wird anfangs immer das Mate­ri­al genutzt. Ein Bei­spiel: Auf dem Tisch lie­gen 3 Zeh­ner­stan­gen und 4 Einer­wür­fel und es soll nun +20 gerech­net wer­den. Das Kind könn­te viel­leicht fol­gen­des erklären:

„Ich neh­me noch zwei Zeh­ner­stan­gen und lege sie dazu. Dann habe ich vierundfünfzig.”

Die für die­se Arbeit ein­ge­setz­ten Die­nes-Wür­fel (sie­he unten) for­cie­ren gleich­zei­tig, dass sich die Kin­der vom zäh­len­den Rech­nen lösen und ihre Vor­stel­lung davon auf­ge­ben, dass die Addi­ti­on aus­schließ­lich ein „Vor­wärts­ge­hen” und die Sub­trak­ti­on ein „Rück­wärts­ge­hen” sei. Es zwingt zum Den­ken im Dezi­mal­sys­tem. Die Die­nes-Wür­fel hei­ßen nicht ohne Grund „Dezi­mal-Sys­tem­blö­cke”. 😉

Zu einem spä­te­ren Zeit­punkt machen wir das dann mit Sicht­schutz. Unter einem Tuch lie­gen die 34 und ich lege unter das Tuch die 2 Zeh­ner­stan­gen. Das Kind hat nun nicht mehr das Ergeb­nis vor Augen. Zu einem spä­te­ren Zeit­punkt sagt mir(!) dann das Kind, wie ich beim Rech­nen mit dem Mate­ri­al vor­ge­hen muss und ich lege das Mate­ri­al so, wie ich es gesagt bekomme!

Das bedeu­tet: Sobald ich fest­stel­le, dass das Kind im Kopf die Mate­ri­al­hand­lung durch­füh­ren kann, dann kann ich davon aus­ge­hen, dass es eine Grund­vor­stel­lung davon erwor­ben und „es” begrif­fen hat.

Wei­te­re Infor­ma­tio­nen zu Grund­vor­stel­lun­gen bei: Wartha/Schulz – Auf­bau von Grund­vor­stel­lun­gen (nicht nur) bei beson­de­ren Schwie­rig­kei­ten im Rech­nen (unten bei Punkt 4)

4. Didak­ti­sche Reihenfolge

In die­sem Schul­jahr habe ich wie­der sog. Lern­ge­sprä­che mit Kin­dern durch­ge­führt. Dies­mal wur­den die­se Gesprä­che auf Video doku­men­tiert, um sie auch für mei­ne Arbeit an der Uni Koblenz nut­zen zu kön­nen. Dank der Vide­os konn­ten wir erken­nen, dass die farb­lo­sen Die­nes-Wür­fel (Dezi­mal-Sys­tem­blö­cke) bei schwä­che­ren Schü­lern ten­den­zi­ell geeig­ne­ter waren als der Rechen­rah­men. Wie­der­um zeig­te sich der Rechen­rah­men bei bestimm­ten Aspek­ten vor­teil­haf­ter für man­che Kinder.

Gene­rell gilt: Jedes Mate­ri­al muss RICHTIG benutzt wer­den. Es wird nicht durch zufäl­li­ges Han­tie­ren beim Kind zur Erkennt­nis füh­ren! Es hilft auch nicht, wenn ein Kind eine Hand­lung ewig und unend­lich wie­der­holt. Wenn das Kind sei­ne eige­nen Hand­lun­gen mit­spricht und erklärt, för­dert das den Erkenntnisprozess!

War­nung: Die fol­gen­den Punk­te MÜSSEN han­delnd am Mate­ri­al erfol­gen. Sie dür­fen nicht stumpf­sin­nig abge­ar­bei­tet wer­den! Sie MÜSSEN fle­xi­bel und situa­ti­ons­ge­recht gehand­habt werden!

  • 20 + 30 oder 60 – 10
  • 53 + 20 oder 71 – 40
  • 43 + 8 oder 93 – 3 (hier­bei am Ende 10 Einer­wür­fel in eine Zeh­ner­stan­ge ein­tau­schen!)
  • 62 – 5 oder 47 + 4 (hier­für muss immer eine Zeh­ner­stan­ge in 10 Einer ein­ge­tauscht wer­den! Mathe­ma­tisch voll­zieht sich hier das sog. Bün­deln und Ent­bün­deln, das spä­ter in Klas­se 3/4 sehr, sehr, seeee­ehr wich­tig wird!)
  • 53 – 9, 27 + 11 oder 83 – 12 (mit 8, 9, 11, 12: Erkennt das Kind die Nähe zur 10 und kann schon die­sen Rechen­vor­teil nut­zen? Am Mate­ri­al Zeh­ner ein­tau­schen!)
  • 24 – 19, 69 + 22 (ähn­lich wie oben, jetzt aber durch­ge­hend mit 10er-Übergang)
  • „100er-Freun­de”: 54 + 46 = 100 Hier­für eig­net sich beson­ders der Rechenrahmen!

Anmer­kung: Bevor mit Kin­dern der­art gerech­net wer­den kann, ist es erfor­der­lich, eine Grund­vor­stel­lung zur Dezi­mal­schreib­wei­se unse­rer Zah­len aufzubauen!

Beson­ders inter­es­sant wird es bei Auf­ga­ben, wie 52 – 49 oder 71 – 69. Gelingt es dem Kind hier aus dem kar­di­na­len Zah­l­aspekt situa­tiv in den ordi­na­len zu wech­seln? Dafür müss­te es in der Erklä­rung sei­nes Rechen­we­ges z.B. einen der fol­gen­den Wege nen­nen kön­nen: „Ich gehe drei Schrit­te zurück” (Grund­vor­stel­lung zu Rechen­stra­te­gien) oder „52 ist 3 mehr als 49” (Grund­vor­stel­lung zur Sub­trak­ti­on). Die Fähig­keit eines Kin­des im Kopf den kar­di­na­len und ordi­na­len Zah­l­aspekt wech­seln zu kön­nen, stellt einen „Höhe­punkt” im Reche­n­er­werb dar! Hel­fen kann(!) hier in man­chen Fäl­len der Zahlenstrahl.

Hin­weis: Beim Addie­ren kön­nen Zeh­ner und Einer getrennt von­ein­an­der addiert wer­den, z.B. 43 + 28 = 40 + 20 und 3 + 8 . Beim Sub­tra­hie­ren gelingt die­ser Weg nicht, solan­ge das Kind nicht mit nega­ti­ven Zah­len rech­net, wozu man­che Kin­der pro­blem­los und von sich aus(!) in der Lage sind. Ich emp­feh­le daher, dass lang­sa­me­re Kin­der ohne beid­sei­ti­ge Zahl­zer­le­gung sub­tra­hie­ren, d.h. 83 – 12 = 83 – 10 und ‑2 oder ‑2 und ‑10.

Erst wenn Kin­der die ent­spre­chen­den Punk­te (sie­he oben) am Mate­ri­al nach­voll­zie­hen und erklä­ren kön­nen, ist es Zeit für das Üben die­ser Teil­schrit­te auf Papier und etwas spä­ter kommt es dann auch end­lich zum Kopfrechnen!

5. Schluss­be­mer­kung

Ich hof­fe, dass ich durch die­sen Arti­kel ver­deut­li­chen konn­te, dass das Kopf­rech­nen NIEMALS nur das Aus­wen­dig­ler­nen von Zah­len bedeu­ten kann, wenn Kin­der in Mathe­ma­tik zu siche­ren Rech­nern wer­den sollen.

6. Wei­ter­ge­hen­de Informationen

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