Vor Jahren wurde mit Kindern aus „bildungsfernen Elternhäusern” ein Experiment durchgeführt. Veranwortlich dafür war Louis P. Benezet, der zum damaligen Zeitpunkt Schulrat in New Hampshire (nördlich von New York) war. In ausgewählten Schulen mit einem hohen Immigranten-Anteil wurde darauf verzichtet, formale Arithmetik zu unterrichten. Arithmetik ist der Teilbereich in Mathe, der das Rechnen mit Zahlen (Grundrechenarten, Brüche) beinhaltet. In den Experimentklassen wurden von der ersten Klasse an keine systematischen Lehrgänge mehr durchgeführt. Die Ergebnisse der Experimente waren sehr verblüffend und zugleich spektakulär. Trotzdem haben nur die wenigsten Menschen davon gehört.
Im Jahre 1929 forderte der Vorsitzende der Schulräte Frank D. Boynton in New York seine Kollegen auf, ihm Ideen zu unterbreiten, um die Lehrpläne zu entschlacken. Er schrieb: „Was können wir aus den Lehrplänen der Grundschulen streichen?” Einer der Empfänger war Benezet, der mit diesem Vorschlag antwortete: „Wir sollten auf Inhalte verzichten, die die Kinder später viel schneller lernen. Dazu zähle ich die formale Arithmetik, die – außer beim Geld – in der Erfahrungswelt der Kinder wenig Bedeutung hat. Welchen Sinn macht es für ein 10-jähriges Kind, die schriftliche Division zu lernen?” Benezet schrieb in seiner Antwort weiter: „Die Zeit, die Lehrer in den frühen Schuljahren mit Arithmetik verbringen müssen, sind vergeudete Mühen. Seit ein paar Jahren fällt mir nämlich auf, dass die frühe Einführung von Arithmetik dazu führt, dass das logische Denken von Kindern abstumpft und wie mit Choloroform betäubt wird. Der ganze Drill führt dazu, dass die Kinder das Fachgebiet der Arithmetik von ihrem gesunden Menschenverstand abtrennen. Die Rechentechniken, die man den Kindern vermittelt, können sie zwar durchführen, aber es gelingt ihnen damit kaum, reale Probleme mathematisch zu lösen!” Ich denke, dass Benezets Beobachtungen bis heute an Aktualität nichts verloren haben!
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Benezet ging es nicht darum, auf Arithmetik gänzlich zu verzichten. Zahlen hatten auch in den Experimentklassen jederzeit ihren Platz, wenn sie Teil von problembehafteten Aufgaben waren oder sich in konkreten Situationen aus der Erfahrungswelt der Kinder ergeben haben. Benezets Intention lag also vielmehr darin, auf die formale Arithmetik zu verzichen, auf die lehrgangshaft systematisch vermittelte Arithmetik, die bis heute in der Schulmathematik und den Schulbüchern den allermeisten Raum einnimmt.
Während der großen Immigrantenwelle Anfang und Mitte der 30er in die USA zeigte sich Benezet besorgt darüber, wie wenig die Kinder der Einwanderer englisch sprechen und sich ausdrücken können. In einer 8. Klasse machte er die erschütternde Entdeckung, dass die Schüler nicht in der Lage waren, eine einfache Bruchrechenaufgabe in eigenen Worten zu erklären. Die Ursache für die katastrophalen Erklärungen sah er in den Lehrplänen. „Wenn die Lehrer laut Lehrplan den Kindern in der 4. Klasse die schriftliche Division beibringen müssen und in der 5. Klasse die Bruchrechnung, dann kostet sie das Stunden über Stunden, die für die Spracharbeit verloren geht.” Benezet schlussfolgerte aus verschiedenen Beobachtungen, dass auf formale Arithmetik bis einschließlich der 6. Klasse verzichtet werden sollte, um die Sprache stärker in den Vordergrund rücken zu können. In den Experimentklassen legten die Lehrer den Schwerpunkt auf die drei Rs: to read, to reason, to recite – lesen, begründen und vortragen.
Das Experiment führte Benezet mit freiwilligen Lehrern an ausgewählten Schulen durch. Die Eltern der Kinder waren zu über 90% Immigranten. Zu Hause wurde nicht englisch gesprochen. Bevor das Experiment startete, wurden die Eltern um Zustimmung gebeten. Benezet war sich sicher, dass er das Experiment in Klassen mit einem hohen Anteil Eltern aus bildungsnahen Kreisen nie hätte durchführen können, da die Eltern dagegen Sturm gelaufen wären.
Im Unterricht der Experimentklassen war der Anteil des Mündlichen sehr hoch. Die Schüler lasen viel in Büchern und erzählten davon, berichteten von ihren privaten Erlebnissen und vielem anderen mehr. In derart unterrichteten Klassen stellte Benezet fest, dass die Kinder gerne zur Schule gingen. Bereits nach wenigen Monaten war der Unterschied zu den anderen traditionell unterrichteten Klassen sichtbar gewesen. Die Kinder erzählten u.a. mit großer Begeisterung von den Büchern, die sie lasen, schrieben ausführliche Geschichten und anderes mehr, während es in den traditionell unterrichteten Vergleichsklassen vergleichsweise zäh zuging.
In Mathematik beschäftigten sich die Experimentklassen sehr intensiv mit dem Schätzen von Höhen, Längen, Volumina, Flächen, Entfernungen und ähnliches. Benezet entwickelte folgenden Rahmenplan für die Klassenstufen 1 bis 8.
Lesen Sie nun Teil 2 von „Macht weniger Arithmetik erfolgreicher in Mathematik?”: der damalige Rahmenplan für Mathe für Klasse 1 bis 8, die Ergebnisse des Experiments, Kritik und Schlussfolgerungen, sowie Quellenangaben und weiterführende Informationen.