„… Mats Ekholm war viele Jahre Direktor der nationalen Bildungsagentur Skolverket in Schweden. Nach einem seiner Deutschlandbesuche habe ich ihn gefragt, was ihm denn an deutschen Schulen im Vergleich zu den schwedischen am stärksten auffällt. Seine Antwort: „Dass die Schüler nichts zu essen bekommen.“ …
Hätte ein Ethnologe wie Claude Lévi-Strauss deutsche Schulen auf ihre Strukturen hin untersucht, ihm wären zuerst die verwahrlosten Tischsitten aufgefallen, übrigens auch im Lehrerzimmer. Gegessen wird nebenher, selten gemeinsam. Vielen Kindern wird von den Eltern nicht mal halbwegs kultivierter Proviant mitgegeben. Sie versorgen sich am Schulkiosk mit übersüßen Schokoriegeln und fetten Pommes. Es gibt oft keine Räume und keine Tische, die zum Essen vorgesehen sind. Und alle essen schnell. Keine Zeit. Der gleiche rasende Stillstand herrscht auch im Unterricht während Informationen aufgenommen werden, oder, wie es heißt, beim „Vermitteln von Stoff“. Stoff? Sollte man das Wort nicht lieber den Dealern überlassen?
Lévi-Strauss hatte in seinem Buch „Ursprung der Tischsitten“ festgestellt, wie sich das Sinnlich-Körperliche und das Geistig-Kognitive ähneln. An unseren Schulen sind am Essen und mehr noch am Umgang mit dem „Wissensstoff“ Anzeichen von Bulimie unverkennbar. Jetzt dämmert einem, was der Schulforscher und langjährige Direktor der schwedischen Bildungsbehörde vermisste: Dass den Kinder etwas gegeben wird. Bei der gemeinsamen Mahlzeit erfahren sie, was der Ethnologe Marcel Mauss „Die Gabe“ nannte. Nur eine Schule, die gibt, kann auch etwas verlangen. Beides gehört zusammen. Unsere geizige Schule verlangt auch viel zu wenig. Ihr reicht es, dass der Betrieb läuft. Danach darf alles wieder vergessen werden.
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„Viele Jugendliche wollen überhaupt nichts lernen,“ schreibt in einer E‑Mail zu dieser Kolumne Anne Fliegenhenn, Lehrerin aus Münster. „Sie wollen verwertbare Abschlüsse, um einen guten Beruf zu bekommen, sie wollen das Abitur als zentralen Endzweck von Schule. Dementsprechend lernen sie, was sie müssen – Neugier und Offenheit für die Anstrengung des eigenen Denkens sind ganz und gar nicht vorauszusetzen, noch nicht einmal Respekt vor Bildung überhaupt.“
Wie kommt man aus diesem Schlamassel heraus? Ein Vorschlag: Wie wäre es, in den Schulen nur eine einzige Sache zu ändern? Diese eine Änderung wäre: Ab sofort wird keine Klassenarbeit, keine Klausur, kein Test mehr über ein Thema geschrieben, das in den letzten sechs Wochen, besser in den letzten drei Monaten im Unterricht durchgenommen wurde. Alles andere darf geprüft werden. Schulen sollten in dem Maße öffentliches Ansehen erwerben, wie sie diese Frist weiter ausdehnen. Wenn man dieses Gebot zum Prüfen nachhaltigen Lernens ernst nähme, was müsste sich dann nicht alles in der Folge ändern? Die Einzelheiten dürfte man getrost jeder Schule selbst überlassen.”
Zum vollständigen Artikel: Schule: Pädagogische Bulimie, sehr interessant auch die Diskussion unterhalb des verlinkten Artikels