Wenn sich jedes Jahr die ca. 30.000 Mitglieder der neurowissenschaftlichen Gesellschaft zum Kongress treffen, werden unter anderem aktuelle Erkenntnisse vorgestellt, die im zurückliegenden Jahr gewonnen wurden. Im Folgenden ein paar Erkenntnisse der letzten 20 Jahre, die auch für Schule von Bedeutung sind:
- In jedem Gehirn von Jung bis Alt wachsen immer Nervenzellen. Die althergebrachte Meinung ist hingegen, dass das Gehirn mit zunehmenden Alter quasi den „Hirntod auf Raten” erlebt.
- Die neuen Nervenzellen lernen besser als die alten.
- Wenn man joggt, wachsen Extra-Nervenzellen nach. Das heißt, der Sportunterricht erzeugt die Hardware (= neue Nervenzellen), die mit Software (= Lerninhalte) gefüllt werden kann. Deswegen müsste es eigentlich jeden Tag Sportunterricht geben! Oder anders ausgedrückt: Kinder, die nicht täglich vor Anstrengung schwitzen, nutzen ihre Potenziale nicht aus.
- Das Gehirn verändert sich täglich, weil es immer lernt. Lernen kann man nicht verhindern. Die Frage ist nur, was das Gehirn lernt.
- Neues kann nur gelernt werden, wenn es an bereits Gelerntem anknüpfen kann.
- Der Aufenthalt „im Grünen” wirkt sich unzweifelhaft positiv auf das soziale Miteinander aus! Deshalb: Hinaus in den Wald und auf die Wiese!
- Mädchen und Jungen sind für Mathematik gleichermaßen begabt und gleich gut. Wer einem Mädchen sagt „Du bist halt nicht so gut in Mathe, weil du ein Mädchen bist”, senkt die Leistungen von Mädchen. Denn: Wenn man glaubt, dass eine Fähigkeit von einer Begabung abhängig ist, dann übt man erst gar nicht. Das trifft im übrigen auch für Sport zu. Wer sich für unsportlich hält, gibt sich keine Mühe, und wenn man das benotet, bewirkt der Sportunterricht, dass man diesen Kindern die Lust an Sport vermiest. Und das gilt eben auch für andere Fächer.
- Es ist nicht egal, was man von sich selbst denkt: Wenn man meint, dass man schlecht ist, ist man schlechter als möglich. Wenn man glaubt, dass man gut ist, ist man besser. Die Studie, die diesen Zusammenhang belegt hat, wurde unter anderem im Science-Magazin publiziert. Der Effekt war – sehr kurz gesagt – der, dass die Schulnoten über einen Zeitraum von zwei Jahren besser wurden insbesondere bei den schwachen Schülern! Diese Kinder stärkt man aber nicht, indem man ihnen auf die Schultern klopft, sondern indem sie sich selbst stärken, weil nur das ist für sie echt bzw. ehrlich. Sie selbst suchen sich die Mitschüler / Vorbilder aus, an denen sie sich orientieren und zwar sind dies Vorbilder, die sie auch realistischerweise erreichen können. Wie hat man die Selbstbejahung in der Studie gefördert? Der Effekt wurde nachgewiesen, indem die Schüler viermal im Jahr über sich selbst geschrieben haben (Was kann ich gut? Was für Ziele habe ich?)
Zitat Manfred Spitzer: „Was haben wir als Grund für unser Exportweltmeister-Dasein? – Die Gehirne der nächsten Generation. Derzeit vermüllen wir die systematisch jeden Tag. Die Medien machen das… Und die Schulen versuchen’s a bisserl, aber wenn Sie mal überlegen, worum gehts: Output, Output, Output, PISA-Test, aber nicht drum, aus dem (dem Schüler), was zu machen, wo er sich wohlfühlt, wo er stark ist und sagt: Da kann ich hin! Im Gegenteil, wir sagen immer: Das kannste nicht, das kannste nicht, das kannste nicht. Wir demotivieren damit Schüler systematisch! Und es gibt auch Untersuchungen dazu. Erstklässler, die haben richtig Lust auf Schule und spätestens am Ende von Klasse 2 ist es damit vorbei, allerspätestens im ersten Halbjahr der dritten Klasse. Warum? Da geht es um die Gymnasialempfehlung und da macht es keinen Spaß mehr. Wissen wir doch alle! Das müssen wir aber ändern, wenn wir Exportweltmeister bleiben wollen!”
aus: Aufklärung 2.0, Vortrag von Manfred Spitzer, Hirnforscher und Professor für Psychiatrie in Ulm und Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik
Weitere Informationen finden Sie im Artikel: Aufklärung 2.0
Linktipps mit Videos:
- Vortrag – Lernen und Motivation (empfehlenswert!)
- Interview mit Spitzer und einer Mutter eines Schulkindes (sehr empfehlenswert!)
Anmerkung:
Damit keine Missverständnisse aufkommen, stelle ich klar, dass in den letzten 20 Jahren deutlich mehr Erkenntnisse gefunden worden sind, als die sieben von mir hier kurz vorgestellten. Jährlich werden etwa 40.000 neurowissenschaftliche Arbeiten publiziert. Weitere Erkenntnisse werden in den Videos oben dargelegt.