Am Beispiel des Geräteturnens beschreibe ich, wie ein geöffneter Sportunterricht aussehen kann. Unter geöffnetem Sportunterricht verstehe ich einen Unterricht, bei dem der Lehrer einen thematischen Rahmen vorgibt, hier das Geräteturnen (siehe auch die erste Frage des Artikels Vortrag zum Unterricht).
Ich habe den hier beschriebenen Unterricht in zwei dritten und zwei vierten Klassen durchgeführt. Angelegt ist diese Unterrichtseinheit für etwa 4–5 Doppelstunden. Bis auf „meine” Klasse brachten die anderen drei Klassen keinerlei Vorerfahrungen mit offenem Arbeiten im Sportunterricht mit. Daher gehe ich davon aus, dass der von mir skizzierte Unterricht auf andere Klassen übertragbar zu sein scheint. Alle Stunden habe ich um der Erfahrung willen in allen Klassen auf gleiche Weise durchgeführt. Die Aufgabe der Kinder ist es, sich eine Kür an den bereit gestellten Geräten auszudenken und vorzustellen.
Der Lehrer gibt außer des Geräteaufbaus zunächst nichts weiter vor. Er legt ggfs. Übungsideen mit den ausgewählten Bewegungsabläufen aus. Mit weiterem Input hält er sich aber zurück. Vielmehr schlüpft er in die Beraterfunktion.
Rahmenbedingungen (vom Lehrer vorgegeben)
- Auswahl und Aufbau der Geräte
- Arbeitsauftrag: Denkt euch eine Kür an einem oder mehreren Geräten aus.
Geräteaufbau (vom Lehrer vorgegeben)
- Schwebebalken (umgedrehte Bank), ggfs. Matten
- Barren (unten 3 kleine Kästen zur Absicherung, Matten)
- gr. Kasten – mit Sprungbrett an der kurzen Seite und Matten
In jeder Stunde sind die Geräte und ihr Aufbau dieselben! Das erleichtert den zügigen Aufbau zu Beginn jeder weiteren Stunde. Sinnvoll ist es, die drei Geräte nach Möglichkeit in einem Dreieck aufzubauen. So hat man als Lehrer kurze Wege, um zu jedem Gerät zu gelangen.
Ablauf
Stunde 1
- Geräteaufbau (Höhe des Barrens und Kastens je nach Vorerfahrung der Klasse einstellen)
- Sicherheitsbelehrung (Art und Umfang je nach Vorerfahrung der Klasse)
- Freies Turnen: Auftrag: „Bewegt euch an den Geräten, probiert alle aus.” Nach einiger Zeit – man wird schon sehen, wann es sinnvoll ist – die Gruppe zusammenrufen, kurze Zwischenreflexion: „Was habt ihr geturnt? Ist euch was aufgefallen? Gibt es etwas, das ihr den anderen Kindern sagen / sie auf etwas hinweisen möchtet? Möchte jemand was vorzeigen? …” Die Fragen stelle ich abhängig von meinen Beobachtungen, wie sie gerade passen bzw. sich sinnvollerweise ergeben. Ich will an dieser Stelle einmal ausdrücklich darauf hinweisen: Jeder Lehrer muss am Anfang bei geöffnetem Sportunterricht sehr tolerant sein! In den Klassen, die offenes Arbeiten nicht gewohnt waren, probierten vor allem die Jungen wirklich jeden „Mist” 😉 mal aus, d.h. sie warfen sich bäuchlings auf den Kasten, ließen sich wie ein Sack herunterfallen usw. TOLERANZ unter Einhaltung der besprochenen Sicherheitsregeln(!!) ist hier das Stichwort und vor allem der Glaube daran, dass am Ende mehr bei rumkommt, als es am Anfang den Anschein hat! Nächster Auftrag: „Sucht euch bitte das Gerät, an dem ihr euch am besten / am sichersten gefühlt habt und denkt euch eine Übung etwas aus!” Anschließend wieder turnen lassen und zwischendrin ggfs. noch eine Mini-Reflexion.
- Gesamtreflexion am Ende: „Was habt ihr heute gelernt?”
Die Aufgabe des Lehrers in der ersten Stunde ist wirklich nur beobachtend. Einfach rumgehen, Kinder motivieren (z.B. „Super Idee, die du hast, mach weiter so”), Hilfestellung geben, wenn von den Kindern eingefordert – und nicht vergessen: fest daran glauben, dass das schon wird! 🙂
Stunde 2
- Geräteaufbau, wie gehabt
- Freies Turnen zu Beginn
- Alle zusammentrommeln. Auftrag: „In etwa 3–4 Wochen turnt jeder eine kleine Kür vor. Überlegt euch, an welchem Gerät ihr etwas vorturnen möchtet, mehrere Geräte sind auch möglich. Geht an die Geräte, und versucht euch, ein paar Bewegungen auszudenken, holt euch eventuell Hilfe, fragt andere Kinder, seht auf den kopierten Übungsideen neben den Geräten nach, wenn euch nichts einfällt …”
- Freies Turnen, Lehrerverhalten wie oben. In dieser Stunde habe ich jetzt auch Ideen eingebracht, wenn ich gefragt wurde. Möglich ist auch, auf die kopierten Bewegungsabläufe zu verweisen. Aufgabe des Lehrers: Während des freien Turnens alle Kinder beobachten! Ich suchte mir währenddessen 2–3 gelungene Bewegungsaktionen / Turnideen und 2–3 weniger gelungene Ideen (insbesondere den „kreativen Unsinn” einiger Jungen) heraus. Ja, nach wie vor gab es noch Jungen in den drei Klassen, die nicht glauben konnten, dass sie wirklich eigenverantwortlich an den Geräten turnen durften.
- Nach etwa 15 Minuten die Kinder zur Zwischenreflexion rufen: aufgerufene Kinder turnen vor, die anderen Kinder geben den Vorturnern ein Feedback. Ich habe auch manchmal etwas dazu gesagt.
- Freies Turnen, Lehrerverhalten wie oben
- Gesamtreflexion am Ende: Was habe ich neues gelernt? Wer möchte seine Ideen vorführen?
Stunde 3
- Geräteaufbau wie gehabt
- Lehrerauftrag: „Überlegt euch bitte etwas, das ihr am Anfang eurer Kür machen könntet.”
- Ab jetzt wiederholt sich der Ablauf wie in Stunde 2. Das heißt: Die Kinder turnen lassen, der Lehrer beobachtet gelungene und in seinen Augen „weniger gelungene” Ideen, motiviert, gibt eventuell Impulse. Zwischenreflexion mit allen: 2–3 gelungen und weniger gelungene Ideen vorführen lassen. Feedback von Schülern und Lehrer. Weiterturnen lassen… Schlussreflexion
Stunde 4
- Geräteaufbau wie gehabt
- Lehrerauftrag: „Überlegt euch bitte etwas, das ihr am Ende eurer Kür machen könntet.”
- weiterer Ablauf wie gehabt… Eventuell fertigstellen der Kür, Bewegungselemente (Anfang, Bewegungsteil und das Ende) werden miteinander verbunden.
Stunde 5
- Geräteaufbau wie gehabt
- Lehrerauftrag: „Macht eure Kür soweit fertig, dass ihr sie vorführen könnt.” Benotung in Stunde 6 oder in der laufenden Stunde 5, je nach Bedarf.
Die Benotung lief dann so ab, dass jedes Kind vorturnte, sich selbst anhand der gemeinsam aufgestellten Benotungskriterien einschätzte und ein kurzes Feedback (Note) der Mitschüler erhielt. Letztendlich konnte ich fast alle Noten bestätigen! Es war sogar so, dass die Benotung der Kinder noch strenger war, als wie ich sie in Einzelfällen erteilt hätte!
Kolleginnen, die sich nicht trauen würden, derart offen zu unterrichten, könnten beispielsweise einige einfache Bewegungsideen als Kopie auslegen bzw. den Auftrag erteilen, dass in der Kür wenigstens eine ausgelegte Bewegungsidee vorkommen muss.
Meine Erfahrung mit dieser Art des Geräteturnens ist sehr positiv! Erstaunlich waren folgende Beobachtungen: 1. Die Jungen, nachdem sie über die Ausprobierphase hinweg waren, meckerten, als der Sportunterricht vorbei war! Sie wollten weiterturnen – unglaublich für Jungen! 😉 Auch ich habe Geräteturnen als Schüler gehasst! 2. Korpulente Kinder entwickelten einen noch nie gesehenen Ehrgeiz! Meine Kollegin sagte: Guck mal, von dem Kind hätte ich nie gedacht, dass es einen solchen Willen entwickelt! Es gab in den drei Klassen, wo ich „nur” Sport unterrichte, zwei oder drei Kinder, die absolut keine Idee hatten, was sie denn machen könnten. Solchen Kindern würde ich beim nächsten Mal entsprechend ihren Möglichkeiten etwas vorgeben, das sie entweder genau so turnen oder weiter ausbauen können.
Und was kam letztendlich bei herum? Ich will vielleicht nur so viel sagen: Ich habe es bereut, dass ich keine Videokamera dabei hatte, als die Kinder vorturnten. Da waren Küren dabei, bei denen mir die Kinnlade herunter fiel!
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