Woher rührt der Wunsch mancher Eltern, dass in einer Klasse immer alle Kinder dasselbe tun sollen, dasselbe Thema bearbeiten sollen? Auf der Seite shift von Lisa Rosa beschreibt ein Leser die historische Entwicklung von Chancengleichheit, sehr lesenswert!
Hans Traxler, Chancengleichheit. In: Michael Klant (Hrsg.): Schul-Spott. Karikaturen aus 2500 Jahren Pädagogik, Hannover 1983, S. 25
Der Lehrer sagt auf der Karikatur zu seinen Schülern: „Zum Ziele einer gerechten Auslese lautet die Prüfungsaufgabe für Sie alle gleich: Klettern Sie auf den Baum!”
So schreibt corredor am 23. Februar 2009 zu eben dieser Karikatur:
Damals ging es um Chancengleichheit, um Eingangschancen-Gleichheit, um genau zu sein. Die Zielchancen-Gleichheit, wie überhaupt der Unterschied, wurde erst später zum Problem. Die Ungerechtigkeit und Unsinnigkeit der „objektivierbaren“ Leistungsbeurteilung (moralisch betrachtet) bzw. ihre Begrenztheit (methodisch betrachtet) ist allerdings schon seit den 20er Jahren Gegenstand heftiger methodologischer Kritik.
In der gesamten Diskussion um Chancengleichheit ging es aber schwerpunktmäßig um Gleichheit, nicht um Individualisierung. Eigentlich haben die 68er mit ihrer Kritik an den ungleichen Eingangschancen der sozial Unterprivilegierten nur die konsequente Realisierung des von Comenius übernommenen Grundsatzes eingeklagt, den dann Humboldt, seine Schüler Nicolovius und Süvern und später Diesterweg als Strukturprinzip für die allgemeinbildende öffentliche Pflichtschule in Preußen als einer gesellschaftlichen Institution der bürgerlichen Gesellschaft aufgestellt hatten: Allen sollte zur selben Zeit alles gelehrt werden. Die staatliche Einrichtung der Schule als gesellschaftlicher Lernraum, der Jahresjahrgangsklasse als zeitliche und soziale Gliederung des Lernprozesses, der wissenschaftlich orientierten Unterrichtsfächer als spezieller Medien, des allgemeinverbindlichen Bildungskanons und die Entwicklung von Lehrbüchern und Unterrichtsmethoden – das alles setzte die Gleichheit der Menschen und ihrer Lernfähigkeiten wie ihrer Lernprozesse voraus und zielte auf die Gleichheit der Lernergebnisse, des Wissens und der Allgemeinbildung. Von einer Individualisierung des Unterrichts konnte in diesem Zusammenhang gar keine Rede sein. (Widersprüche und Probleme der Behinderung.) Die Diskussion um Chancengleichheit bewegte sich konsequent in demselben Zusammenhang. Sie wollte lediglich die sozialisationsbedingten Ungleichheiten ausgleichen.
Auf diese Ungleichheiten will die Karikatur mit ihren Mitteln aufmerksam machen. Indem sie aber dafür das Bild der ganz offensichtlichen biologischen Unterschiede der Tierarten benutzt, leistet sie dem Biologismus Vorschub, der auch beim Menschen genetische Unterschiede in den Lernprozessen sehen will und den die 68er ebenso heftig bekämpften. Der Streit um das Verhältnis von Anlage und Umwelt zieht sich bis heute hin. Daß es Unterschiede im Lernen gibt, dafür genügt eine Erinnerung an die eigene Schulzeit. Die Frage ist, ob sie genetisch begründet oder ob sie ihrerseits gelernt sind. Erfahrungsgemäß findet hier jeder eine Bestätigung der Voraussetzung, mit der er gefragt hatte. Mit diesem Zirkel sind die Differenzierungen zwischen den Schulformen oder zwischen Normal- und Sonderschule immer schon mit dem Hinweis auf die genetisch bedingten Unterschiede legitimiert und schein-empirisch bestätigt worden.
Selbst wenn man davon ausgeht, daß – im Prinzip – alle alles lernen können (wenn auch diese unbestimmt allgemeine Fähigkeit immer nur konkret, also historisch bedingt, existiert), dann kann mit dieser Voraussetzung nicht nur eine Gesamtschule für alle, sondern auch eine volle Integration auch behinderter Schüler gut begründet werden. Aber auch das hat mit einer Individualisierung des Unterrichts nichts zu tun. Die Forderung nach Individualisierung (nicht: Differenzierung!) bliebe nach wie vor moralisch.
Nur weil die Individualisierung des Lernens als eine unvermeidbare Tatsache angesehen werden muß, ist die Forderung nach einer Individualisierung des Unterrichts nicht nur legitim, sondern ein Menschenrecht. Aus zwei Gründen.
Weil alle Menschen Individuen sind, einmalig, unverwechselbar, nicht austauschbar und nicht teilbar, besitzen sie auch die allgemeine Lernfähigkeit, alles lernen zu können, in individuell einmaliger Form – und dies als eine unverlierbare, genetisch fixierte Anlage, die sie selbst spätestens von Geburt an im Gebrauch zunehmend individualisieren und konkretisieren.Diese Individualisierung beruht auf der ebenfalls genetisch fixierten Notwendigkeit, nur das zu lernen, was persönlich sinnvoll ist. Schon Tiere lernen – selbst in der Dressur – nur das, was biologisch sinnvoll für sie ist. Erst recht für Menschen gilt der Sinnbezug als unverzichtbares Kriterium für das Lernen – welcher Inhalte auch immer. Persönlicher Sinn kann aber nicht vermittelt werden. Sinngebung (bzw. Sinnbildung) ist eine unhintergehbare individuelle Leistung.
Dann aber können nicht zwei Menschen dasselbe auf dieselbe Weise lernen, geschweige denn eine ganze Schulklasse! Jeder Unterricht überfordert sich hoffnungslos, der das auch nur versucht. Und wenn nachweislich doch gelernt worden ist, dann – wie Luhmann sagt – „trotz des Unterrichts“. Die Individualisierung des Unterrichts besteht so gesehen in der Hilfestellung zur persönlichen Sinngebung (bzw. Sinnbildung) jedes einzelnen Schülers.
Quelle: Gedanken zum „individualisierten Unterricht” von Lisa Rosa