Statistisch gesehen sitzt in jeder Grundschulklasse ein Kind, das Ritalin erhält. An ADHS bei Kindern, Burn-Out bei Erwachsenen und anderen psychischen „Krankheiten”, wie z.B. dem Sissi-Syndrom oder der Paradiesdepression, verdient die Pharmabranche prächtig. Mittlerweile gibt es über 250 verschiedene angeblich eindeutig voneinander zu unterscheidende seelische Krankheiten! Das DSM, das zur Diagnose der Störungen genutzt wird, hat heute etwa 1000 Seiten, während die erste Ausgabe von 1952 mit nur 130 Seiten auskam – und das wohlgemerkt kurz nach einem jahrelangen Weltkrieg.
„Ein Normaler ist heute ein Mensch, den ein Psychiater noch nicht gründlich genug untersucht hat.” (Jörg Blech, Wissenschaftsjournalist) 😆
Interessant:
„Ob wir eine psychiatrische Diagnose bekommen oder nicht, das hängt nicht zuletzt davon ab, wie alt wir sind, ob wir männlich oder weiblich sind und wo wir wohnen. Ein Beispiel dafür ist die Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitäts-Störung, kurz ADHS:
Forscher aus Basel und Bochum haben eine Studie gemacht, und zwar mit 473 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und ‑psychiatern in Deutschland. Diese bekamen Fallgeschichten zu Kindern vorgelegt und sollten eine Diagnose stellen. In drei der vier Fälle waren die Symptome extra so geschildert, dass gar kein ADHS vorlag. Ein Fall dagegen war nach den Leitlinien und Kriterien eindeutig als ADHS dargestellt. In den Fallgeschichten wurden Mädchen und Jungen beschrieben. Das Ergebnis der Studie: Bei sonst gleicher Fallgeschichte gaben die befragten Psychotherapeuten und Psychiater dem Jungen viel häufiger eine ADHS-Diagnose als dem Mädchen. Das bedeutet: Der kleine Leon bekommt die ADHS-Diagnose, die Lea nicht. Und 17 Prozent der befragten Therapeuten und Psychiater stellten übrigens in jener Fallschreibung eine ADHS-Diagnose, in der die diagnostischen Kriterien gar nicht erfüllt waren. Nicht nur das Geschlecht, auch der Stichtag der Einschulung beeinflusst, ob ein Kind die Diagnose ADHS bekommt oder nicht. So hat eine Untersuchung mit knapp 12.000 Kindern ergeben, dass die jüngsten Schüler in der Eingangsklasse der Grundschule eine um 60 Prozent erhöhte Wahrscheinlichkeit hatten, dass Ärzte ihnen ADHS bescheinigten.” (J. Blech, Quelle: Manuskript zur Sendung, siehe unten)
Festgehalten werden muss: Die Leiden wirklich seelisch kranker Menschen müssen ernst genommen und ihnen geholfen werden. Die Auswüchse der Psychiatrie und der Pharmabranche, die bedauernswerterweise zu Lasten der wirklich Kranken gehen, sollten aber sehr bedenklich stimmen.
Wir sollten uns hüten, soziale Probleme der Gesellschaft zur psychischen Störung des Einzelnen zu erklären. … Wenn soziale Probleme … zur seelischen Erkrankung Einzelner erklärt werden, dann bleiben diese Probleme ungelöst. Am Ende ist der Einzelne entmachtet. Er ist stigmatisiert als psychiatrischer Patient und kann keinen Protest mehr gegen jene gesellschaftlichen Zustände organisieren, die ihn krank gemacht haben.” (J. Blech, Quelle: Manuskript zur Sendung, siehe unten)
Wer an dem Hörbeitrag und dem Manuskript interessiert ist, findet beides bei SWR2: Diagnose – Psychisch krank!