Ein Vortrag auf der TED-Konferenz im Frühjahr 2010 von Sir Ken Robinson, eine inhaltliche Fortführung des Artikels Lernen quo vadis? und die logische Fortsetzung des Vortrages Ersticken Schulen die Kreativität von Kindern? aus dem Jahr 2006.
TED-Talk: Her mit der Bildungsrevolution
Wesentliche teils verkürzte Auszüge aus dem Vortrag:
„Al Gore sagte auf der TED-Konferenz im Jahr 2006, dass es eine große Klimakrise gäbe. Ich denke, dass es noch eine zweite Klimakrise gibt, die ebenso ernst ist. Aber dies ist eine Krise nicht der natürlichen Rohstoffe, sondern eine Krise des „Rohstoffs Mensch”. Ich bin mittlerweile fest davon überzeugt, dass die meisten Menschen ihre Talente kaum einsetzen. Sehr viele Menschen verbringen ihr ganzes Leben ohne eine Vorstellung davon, welche Talente sie überhaupt besitzen oder ob sie irgendwelche nennenswerten Talente verfügen. Ich treffe vielerlei Menschen, die glauben, es gäbe nichts, was sie besonders gut könnten. Ich begegne Menschen, die keine Freude an dem haben, was sie tun. Sie leben ihr Leben einfach vor sich hin. Sie haben keine Freude an dem, was sie tun. Sie halten das Leben quasi aus, anstatt es zu genießen und so warten sie jede Woche aufs Neue auf das Wochenende.
Ich treffe aber auch Menschen, die lieben, was sie tun, und die sich nicht vorstellen könnten, etwas anderes zu machen. Es ist nicht das, was sie tun, sondern wer sie sind. Sie sagen: „Das bin ich! Es wäre dumm von mir, diese Tätigkeit aufzugeben, denn sie spricht mein authentisches Selbst an.” Und genau dies trifft leider nicht auf genügend Menschen zu. Ich glaube sogar, dass dies nur für eine Minderheit der Menschen zutrifft. Dies hat mehrere Gründe. Eine wichtige Ursache ist Bildung. Denn Bildung entfremdet viele Menschen von ihren natürlichen Talenten und menschliche Ressourcen sind wie natürliche Rohstoffe. Sie sind tief vergraben. Man muss nach ihnen suchen. Sie liegen nicht auf der Oberfläche herum. Sie zeigen sich nur, wenn die Bedingungen stimmen. Vielleicht denken sie, dass Bildung das leisten würde. Aber allzu oft tut sie das nicht.
Zur Zeit wird auf der Welt jedes Bildungssystem reformiert. Meiner Meinung nach reicht das nicht mehr aus. Reformieren ist zwecklos geworden. Reformen sind der Versuch, ein kaputtes Modell zu verbessern. Was wir brauchen ist keine Evolution der Bildung, sondern eine Revolution der Bildung. Das System muss in etwas anderes verwandelt werden.
Eine der großen Herausforderungen ist, Neuerungen bei den Grundsätzen des Bildungssystems einzuführen. Innovationen sind schwierig, denn sie bedeuten, dass man etwas tut, was die meisten Menschen nicht leicht finden werden. Man muss dafür Dinge, die wir für selbstverständlich hinnehmen, infrage stellen. Das große Problem von Veränderungen sind die Dinge, von denen Menschen denken: „Das kann gar nicht anders gemacht werden, denn so wurde es ja schließlich schon immer gemacht.”
Ich bin vor kurzem auf ein Zitat von Abraham Lincoln gestoßen. Er sagte folgendes im Dezember 1862 bei der zweiten jährlichen Kongresstagung (nach der Schlacht in Frederickburg?):
Die Dogmen der ruhigen Vergangenheit sind für die stürmische Gegenwart nicht mehr ausreichend. Die Lage ist voller Schwierigkeiten und wir müssen MIT der Lage wachsen.
Er sagt nicht, „der Lage gewachsen sein”, sondern „MIT” der Lage wachsen. Weiter im Zitat:
So wie unsere Situation eine neue ist, so müssen wir auf eine neue Art denken und auf eine neue Art handeln. Wir müssen uns selbst entfesseln. Dann werden wir unser Land retten.
Wissen sie, was das bedeutet? Es bedeutet, dass es Ideen gibt, an die wir alle gefesselt sind, die wir für selbstverständlich annehmen. Viele Ideen der Menschheit haben sich herausgebildet, um die Umstände vergangener Jahrhunderte zu bewältigen. Und wir sind immer noch von ihnen hypnotisiert. Von einigen dieser Ideen müssen wir uns befreien. Nur ist das leichter gesagt, als getan. Denn es ist schwer zu erkennen, was man für selbstverständlich hält, eben weil man es für selbstverständlich hält.
Lassen Sie mich aufzeigen, an was wir in der Bildung gefesselt sind.
Das erste ist die Idee von Linearität. Man denkt, dass man bei null anfängt, eine vorgegebene Bahn durchläuft, und wenn man alles richtig gemacht hat, ist man zum Schluss bereit für den Rest des Lebens. Jeder Redner hier auf der TED-Konferenz erzählte darüber eine andere Geschichte, und zwar dass das Leben eben nicht linear ist, sondern organisch. Denn unser Leben gestalten wir in einer Symbiose aus unseren Talenten und den Bedingungen um uns herum. Der Gipfel der Linearität ist in der Vorstellung vieler Menschen, das Studium an einer Universität. Wir sind von der Linearität wie besessen. Das heißt nicht, dass man nicht zur Uni gehen sollte, aber es muss eben nicht jeder zur Uni gehen. Und erst recht muss nicht jeder sofort dahin gehen. Vielleicht später, aber nicht unmittelbar. Ich war vor einiger Zeit in San Francisco und habe Bücher signiert. Da war ein Mann, Mitte 30, und er kaufte auch ein Buch. „Was machen Sie beruflich?”, fragte ich ihn, und er antwortete: „Ich bin ein Feuerwehrmann.” Ich fragte weiter: „Wie lange machen sie das schon?” „Schon immer”, war seine Antwort. „Und wann haben Sie sich für diesen Beruf entschieden?” „Schon als Kind wollte ich zur Feuerwehr. In der (Grund-)Schule war das wirklich ein Problem, weil ja jeder zur Feuerwehr wollte. Als ich ins letzte Schuljahr kam, nahm das vor allem ein Lehrer nicht ernst. Er sagte, dass ich mein Leben wegschmeißen würde, wenn das alles wäre, was ich beruflich machen sollte. Ich solle doch besser studieren an der Uni, weil ich sonst meine Potenziale und mein Talent wegwerfen würde. Diese Aussagen waren erniedrigend, da er das vor der gesamten Klasse sagte. Aber es war das, was ich werden wollte. Deshalb ging ich direkt nach der Schule zu Feuerwehr. Während Ihres Vortrages, Herr Robinson, musste ich an diesen Lehrer wieder denken. Denn vor 6 Monaten rettete ich das Leben meines alten Lehrers und das seiner Frau. Er hatte einen Autounfall, ich habe ihn rausgezogen und wiederbelebt. Ich glaube, er denkt jetzt besser von mir.”
Menschliche Gesellschaften sind abhängig von einer Vielfalt an Talenten und nicht von einer einzigen Vorstellung von Fähigkeiten. Die zentrale Herausforderung ist es, unsere Vorstellungen von Fähigkeit und Intelligenz wieder in ein rechtes Licht zu rücken. Als ich vor ungefähr neun Jahren in Los Angeles ankam, stieß ich auf einen Punkt in einem politischen Programm, der da lautete: „Die Uni fängt im Kindergarten an.” … Nein, das tut sie eben nicht! Der Kindergarten fängt im Kindergarten an. Ein 3‑Jähriger ist auch nicht ein halber 6‑Jähriger! Die Vorstellung von Linearität ist zwar ungeheurlich, aber sie zieht viele Leute an (weil sie von der naiven Annahme ausgeht, dass Lernen so funktioniert, dass der Lehrer einfach vorgefertigtes Wissen in den Kopf des Schülers stopfen und er es nur oft genug wiederholen müsse, um es zu behalten, ein behavioristisches Modell von Lernen; Anmerkung von mir).
Das zweite große Problem ist die Anpassung (Konformität). In der Gastronomie gibt es zwei Modelle der Qualitätssicherung. Eines ist Fastfood, wo beim Einkauf, der Verarbeitung und dem Endprodukt alles genormt ist. In jedem Fastfood-Restaurant können sie sich sicher sein, dass es gleich schmeckt. Das andere sind Dinge wie Zagat- und Michelin Restaurants, wo eben nichts genormt ist, sondern an die lokalen Umstände angepasst ist. Unser Bildungssystem haben wir dem (industriellen) Fastfood-Modell nachgebildet. Es lässt unseren Geist und unsere Energien genauso verarmen, wie auch ständiges Fastfood unsere Körper entleert.
Das, was in unserem Bildungssystem zu kurz kommt, ist Leidenschaft. Oft ist es so, dass Menschen Dinge gut können, die ihnen eigentlich nicht viel bedeuten. Es geht um Leidenschaft und um das, was unseren Geist und unsere Energie weckt. Und wenn man tut, was man liebt, dann vergeht die Zeit rasend schnell. Dann vergeht eine Stunde in gefühlten 5 Minuten. Umgekehrt ist es genauso. Wenn sie etwas tun, das ihren Geist nicht ausfüllt, fühlen sich 5 Minuten wie eine Stunde an. Der Grund, dass viele Leute aus der instutionalisierten Bildung (in den USA?) aussteigen, ist, dass sie ihren Geist nicht nährt. Sie nährt weder ihre Energie noch ihre Leidenschaft. Deshalb, glaube ich, brauchen wir einen Wechsel.
Wir müssen in der Bildung wegkommen von dem derzeitigen Modell der industriellen Massenproduktion, das auf Linearität und Anpassung basiert, bei dem Schüler genormt und in verschiedene Stapel eingeteilt werden. (Das macht ja oberflächlich betrachtet auch einen gewissen Sinn. Das Problem ist nur, dass Autos zu bauen und junge Menschen zu unterrichten, überhaupt nicht dasselbe ist. Einer der wichtigsten Unterschiede ist, dass Autos kein Interesse daran haben, wie sie gebaut werden, aber junge Menschen schon. Sie sind lebende und atmende Wesen. Man kann Schule nicht verbessern, wenn man die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder ignoriert; Auszug aus einem Interview mit Robinson) Wir brauchen ein Bildungsmodell, das mehr auf den Prinzipien der Landwirtschaft fußt. Wir müssen erkennen, dass das Aufblühen von Menschen kein mechanischer Prozess ist. Es ist ein organischer Prozess. Und man kann das Ergebnis der Entwicklung eines Menschen nicht vorhersagen, was dem Glauben an die Linearität widerspricht. Man kann nur, wie ein Bauer, Bedingungen schaffen, unter denen Menschen aufblühen. Wenn wir uns also damit beschäftigen das Bildungssystem zu verändern, dann geht es nicht darum eine Patent-Lösung zu schaffen und diese überall einzuführen. Es geht darum, sich den lokalen Gegebenheiten anzupassen und Bildung auf die Kinder in der Schule individuell zuzuschneiden. Es geht also um eine Bildungsbewegung, in der Menschen ihre eigenen Lösungen entwickeln. Dies zu tun, das ist in meinen Augen, die Antwort für die Zukunft unserer Kinder.
Die neuen Medien und das Internet gemeinsam mit den außergewöhnlichen Begabungen von Lehrern bieten die Gelegenheit, Bildung zu revolutionieren. Ich bitte sie, sich darin zu engagieren. Denn es ist lebenswichtig nicht nur für uns Erwachsene, sondern für die Zukunft unserer Kinder. Doch dazu müssen wir von diesem industriellen Bildungsmodell zu einem landwirtschaftlichen Modell wechseln, in dem jede einzelne Schule aufblühen kann. Denn dort erfahren die Kinder das Leben.”