Erst einmal bedanken wir uns dafür, dass Sie so zahlreich am 3. Februar 2011 zu unserem Vortrag „Einblicke in offenen (Mathe-)Unterricht” an der Uni Koblenz erschienen sind. Im Folgenden möchten wir noch einmal etwas ausführlicher auf einige Ihrer Fragen eingehen.
Was ist offener Unterricht?
Fragen Sie zehn Lehrerinnen, was offener Unterricht ist und wie er bei ihnen aussieht, und sie erhalten 20 verschiedene Antworten. „Mit Offenheit des Unterrichts ist nicht eine bestimmte Methode gemeint, sondern vielmehr die Sichtweise welche der Lehrende von Schule und Unterricht hat. Weiters ist auch das LehrerInnen und SchülerInnen Verhältnis anders als in anderen Unterrichtsformen.” (Was leistet offener Unterricht? von E. Jürgens). Der gemeinsame Ansatz von offenem Unterricht ist also seine Schülerorientierung. Ein Stufenmodell nach dem Grad der Offenheit hilft, sich dem Begriff „offener Unterricht” zu nähern. Wir unterscheiden im Hinblick auf die Organisation, die Methodik und die Lerninhalte vier verschiedene Stufen, die hier nur zusammenfassend angedeutet werden:
Stufe 0: keine Öffnung des Unterrichts (überwiegend lehrergesteuerter und / oder materialzentrierter Unterricht)
Stufe 1: erste Öffnung des Unterrichts (eingeschränkte Auswahl möglich – z.B. Lernen an Stationen, Tages- und Wochenplan, Pflicht- und Wahlaufgaben, überwiegend arbeitsgleiche Aufgaben)
Stufe 2: geöffneter Unterricht (mittel- und langfristig einzuhaltende Rahmenvorgaben, weitgehende Freiheit der Lernwege und Methoden, geöffnete Aufgaben, differenzierter Unterricht)
Stufe 3: offener Unterricht (Eigenproduktionen, interessegeleitetes und eigenverantwortliches Lernen, Förderung durch Eigenförderung (siehe Förder- und Schulprogramm), individualisierter Unterricht)
Wir ordnen unseren Unterricht abhängig von den Intentionen auf den Stufen 2 bis 3 ein. Die Stufen gehen insgesamt teilweise ineinander über.
Einzelne Aspekte in diesem Modell sind übergreifend. So kann beispielsweise eine Differenzierung teilweise auch auf der ersten Stufe praktiziert werden. In der Summe aber – und darum geht es – beschreibt die Stufe 2 bereits einen anderen Unterricht als die erste Stufe.Die Idee zu einem Stufenmodell bzw. Bestimmungsraster von offenem Unterricht beruht auf Falko Peschel. Er spricht in seinem Modell von sechs Stufen. Mir persönlich fällt es aber schwer, diese Stufen wirklich trennscharf voneinander zu unterscheiden. Das oben genannte 4‑stufige Modell erscheint mir eingängiger. Außerdem stößt es viele Kolleginnen nicht vor den Kopf, da die Stufe 1 oben der Stufe 0 bei Peschel entspricht. Betrachtet man die Veränderungen, die der Unterricht in den letzten Jahren in der Grundschule vollzogen hat, halte ich es für sinnvoll, dafür eine andere als die Stufe 0 zu wählen. Stufe 0 weckt bei mir die Assoziation an einen Unterricht, wie ich ihn aus der Feuerzangenbowle her kenne.
Werden die Unterschiede zwischen den Kindern beim offenen Unterricht größer?
Sie werden zumindest nicht kleiner unserer Erfahrung nach, da niemand in seinem Lernfortschritt gebremst wird. Die Aufgabe von Schule ist es, alle Kinder in ihrer individuellen Entwicklung zu fördern und sie auch herauszufordern (Grundschulordnung §1, Abs.1). Dies gelingt, wenn man die Heterogenität von Leistungen, Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten innerhalb der Klasse akzeptiert. Wer der Heterogenität in einer Klasse damit begegnet, die Kinder informell in eine schwache, mittlere und starke Lerngruppe zu teilen, wird nur einem Teil der Klasse gerecht. Dies ist aber immerhin ein erster kleiner Schritt, um im Sinne der Grundschulordnung, Kinder individuell wahrzunehmen.
Die Annahme, dass Kinder in die Schule gehen, um am Ende mit denselben Fähigkeiten und demselben Wissen entlassen zu werden, ist naiv. Diese leider weit verbreitete Vorstellung von Schule fußt auf dem Bildungsmodell der industriellen Massenproduktion und dem mittlerweile veraltetem behavioristischen Verständnis von Lernen. Wir müssen damit aufhören, die Unterschiede zwischen den Kindern als Problem darzustellen. Nur so können wir uns von dem Gedanken lösen, alle Kinder gleich machen zu wollen. Gleiche Lernbedingungen für alle, ja! Aber Kinder gleich machen, unmöglich! Dieser Anspruch („Alle Kinder sollen mit dem gleichen Wissen, den gleichen Fähigkeiten ‚ins Leben’ starten”) ist ja moralisch absolut löblich, und das ist es, was eigentlich hinter der oben genannten Frage steckt. Dennoch sind Kinder aber nun einmal verschieden, haben verschiedene Begabungen, unterschiedliche Fähigkeiten und lernen auch verschieden schnell. Kinder zu unterrichten ist eben nicht dasselbe wie Autos zu bauen.
Was ist der Unterschied zwischen Differenzierung und Individualisierung?
Differenzierung geschieht immer vom Lehrer aus. ER „weiß”, was für das Kind „gut” ist. Der Lehrer bleibt also in der klassischen „Lehrerrolle”, wie sie auch von vielen Eltern vorausgesetzt wird. Die Autonomie des Kindes besteht darin, sich aus vorgegebenen Aufgaben etwas aussuchen zu dürfen und diese scheinbar eigenverantwortlich abzuarbeiten. Individualisierung hingegen orientiert sich bei arbeitsgleichen Aufgaben am individuellen Leistungsvermögen des Kindes (natürliche Differenzierung) oder an seinen Interessen. Jedes Kind ist sein eigenes Curriculum. Aufgabe des Lehrers ist es, dieses Curriculum mit den Erwartungen von Schule so zu vereinbaren, dass dabei die Autonomie des Kindes und seine intrinsische Motivation zu lernen, respektiert wird.
Weitergehende Informationen siehe: differenziertes und individualisiertes Lernen
Kommt im offenen Unterricht die Sprache in der Mathematik zu kurz?
Wie oben genannt, ist „offener Unterricht” meist sehr verschieden gestaltet. DEN offenen Unterricht gibt es nicht. Von daher erscheint es äußerst fragwürdig, Erkenntnisse über die Sprache in einem „offenen Mathematik-Unterricht” generalisieren zu wollen.
Der Austausch über mathematische Aufgaben und Lernwege geschieht bei uns in vielfältiger Weise:
- im kleinen (Einstein-/Adam-Riese-) Kreis mit der Unterstützung des Lehrers
- in gemeinsamen klassenübergreifenden Phasen (mit geöffneten Aufgabentypen, Knobelaufgaben etc.)
- in der schriftlichen Fixierung eigener Überlegungen und eigener Rechenwege und dem Austausch darüber mit a) dem Lehrer, b) mit anderen Kindern (u.a. im Einstein-/Adam-Riese-Kreis) oder c) im gemeinsamen Kreis mit allen.
Wie soll ich offenes Arbeiten beginnen?
Es gibt viele verschiedene Wege, um Kinder lernen zu lassen. Der Weg von mir in Klasse 1 sah folgendermaßen aus:
- gleichschrittiger Lehrgang (entsprechend der Tobi-Fibel und dem Einstern-Matheheft)
- Tagesplan (an der Tafel, Aufgaben für alle gleich, Reihenfolge darf bestimmt werden, später Pflicht- und Wahlaufgaben)
- parallel dazu erste Öffnung der Hausaufgaben (Nimm dir zwei Aufgaben aus dem Matheheft- und der Tobi-Fibel als Hausaufgabe vor)
- Wochenplan (Aufgaben für alle weitgehend gleich, Reihenfolge darf bestimmt werden)
- differenzierte Wochenpläne (zwei, später drei Schwierigkeitsstufen, jeweils mit Pflicht- und Wahlaufgaben)
- vom Kind erstellte Tages- später Wochenpläne (Zu jedem Bereich (Schreiben, Lesen, Rechnen) überlege dir Aufgaben für den Tag / die Woche.)
- Freies Arbeiten (Woran wirst du heute arbeiten?)
Dieser Prozess vollzog sich im Zeitraum von etwa einem halben Jahr und begann noch vor den Herbstferien. Die Abfolge war nicht geplant, sondern erwuchs aus sich selbst heraus. Eine Hilfe waren mir dabei einige Bücher zum offenem Unterricht. Da mir die Unterstützung der Eltern wichtig war, führte ich Elternabende und einzelne Elterngespräche durch. Weitere Informationen im Artikel Unterricht bei mir
Der Weg von JM gestaltete sich so:
„Im ersten Schuljahr begann ich mit ‚Lesen durch Schreiben’, was alleine schon eine Öffnung des Unterrichts bedurfte. In den folgenden Wochen und Monaten war es ein ’schleichender Prozess’, denn immer häufiger kam der Wunsch der Kinder auf, an etwas anderem zu arbeiten. Während die einen Geschichten schrieben, versuchten sich andere an Matheknobeleien usw. Den Kindern stand nun Tag für Tag mehr Zeit für ihre eigene Arbeit zur Verfügung und ab Ende Klasse 1 der ganze Schulmorgen.”
Wie sieht ein normaler Schultag aus?
Wir beginnen den Schultag mit einem Planungskreis (Stuhlkreis). Meist stellen die Kinder erst ihre Hausaufgaben vor. Dann wird besprochen, wer was macht, wer sich was vornimmt etc. und auch wir stellen vor, was wir im kleinen (Einstein-/Adam-Riese-) Kreis anbieten oder mit welchen Kindern wir uns speziell zusammensetzen möchten. Dann geht’s ab an die Arbeit. Zum Ende des Tages gehört bei uns der Reflexionskreis. Hier werden z.B. Arbeitsergebnisse vorgestellt. Die Kinder geben sich Feedback zu verschiedenen Aspekten ihres Lern- und Arbeitsverhaltens. Und auch wir äußern uns. Führt man das freie Arbeiten ein, kann es Sinn machen, vor den großen Pausen eine kurze Mini-Reflexion einzubauen und auch nach den großen Pausen manche Kinder zu fragen, woran sie in der Stunde arbeiten werden.
Wenn die Kinder auf die weiterführende Schule gehen, bekommen sie dann Probleme mit dem Frontalunterricht?
Die Antwort soll an dieser Stelle W. Hövel geben, der als Schulleiter bereits mehr als 13 Jahre Erfahrung mit dem offenen Arbeiten gesammelt hat: NRW Grundschule Harmonie
Neben den Aussagen Hövels sei darauf aufmerksam, dass auch bei uns frontale Phasen zum Unterricht gehören. Frontalunterricht meint hier, dass der Lehrer allen Kindern der Klasse gleichzeitig ein Thema erklärt oder alle gleichzeitig an der Tafel etwas bearbeiten. Diese Phasen sind zugegebenermaßen selten, sie sind den Kindern aber geläufig. Sie finden auch im Stuhlkreis statt. Längere frontale Phasen werden im übrigen auch von den Kindern selbst gestaltet, wenn sie insbesondere Referate oder Plakate vorstellen.
Welche Bedingungen braucht es, um offen unterrichten zu können?
- Jeder Unterricht steht und fällt mit der Lehrperson. Offener Unterricht erfordert vom Lehrer Mut, viele verschiedene Lernwege zuzulassen, den Mut, sich mit Eltern auseinanderzusetzen, den Mut, Kindern zu vertrauen, dass sie Lernen wollen. Ja, Kinder WOLLEN lernen! Lehrer müssen lernen, Widerstände von Eltern nicht als persönlichen Angriff zu werten, sondern als Ausdruck von Ängsten, denen Verständnis entgegengebracht werden muss.
- Der Lehrer muss wissen, was Kinder lernen sollen. Ihm müssen die Anforderungen klar sein und das zu jeder Zeit! Er muss auch die nationalen Bildungsstandards verinnerlicht haben! Es reicht nicht mehr aus, sich auf das nächste Thema im Schulbuch vorzubereiten. Das heißt auch, dass der Lehrer den Mut zur Lücke haben muss. Er ist nicht mehr der Allwissende im Klassenraum.
- Es ist sehr hilfreich, wenn man mindestens zwei Räume zur Verfügung hat notfalls den Flur. Computer sind nicht notwendig, aber eine nette Zugabe.
- Eine Schulleitung, die offen für neue Wege ist, erleichtert die Arbeit enorm!
- Wenn der Klassenlehrer die Grundstruktur der freien Arbeit vorgibt, so wie dies bei uns geschieht, dann MUSS der Klassenlehrer viel Zeit in der Klasse verbringen. Der Klassenlehrer wird quasi zum Unterrichtsprinzip. Freies Arbeiten löst den Fachunterricht tendenziell auf. Es wird permanent fachübergreifend gearbeitet (projektorientiert) und viel stärker in Disziplinen gedacht!
- Wenn Kinder eigenen Interessen nachgehen oder eigene Interessen entdecken sollen, benötigt es einer gut ausgestatteten Schul- oder Klassenbücherei mit vielen verschiedenen Sach‑, Lese- und Schulbüchern.
- In der Klasse von JM befinden sich 29 Kinder, in meiner 22 Kinder. Offenes Arbeiten funktioniert also auch in relativ großen Klassen, wobei natürlich Unterstützung von Praktikanten/Praktikantinnen oder anderen Lehrpersonen immer willkommen ist.
- Ob das offene Arbeiten in sozialen Brennpunkten möglich erscheint, können wir nicht abschließend beurteilen. Ein hoher Anteil an deutschen Aussiedlern oder Immigranten scheinen zumindest das Konzept nicht generell infrage zu stellen, wie persönliche Erfahrungen hindeuten – auch in der Grundschule Harmonie in Eitorf. Genaueres müsste wissenschaftlich untersucht werden.
JM und MB