Lose Gedanken…
In diesem Artikel von Lisa Rosa bin ich auf eine Begrifflichkeit gestoßen, die ich sehr interessant finde. Sie spricht da beinahe nebensächlich von Personalisierung als alternativen Begriff für die Individualisierung: „..Individualisierung, besser Personalisierung, heißt nicht, dass alle dasselbe, aber alleine für sich lernen müssen, sondern dass Verschiedenes gemeinsam gelernt wird.” Das brachte mich zu der Frage: Ist mit Individualisierung und Personalisierung ein und dasselbe gemeint oder sind es doch zwei unabhängige Lehr-/Lernmotive?
Personalisierung meint, dass jeder für sich im Lerngegenstand seinen eigenen Sinn verarbeitet, den er in ihm entdeckt hat. Sinnbildung ist meiner Meinung DAS zentrale Stichwort beim Lernen. Muss Lernen für den Lernenden immer einen Sinn ergeben? Ausgehend von den Lerngesprächen, die ich mit den Kindern führe, arbeiten sie an diversen Dingen, die teilweise auf Vorschlag und / oder Drängen von mir stammen. Ich erlebe dabei, dass manche Kinder die vereinbarten Aufgaben einfach stur abarbeiten oder vor sich herschieben. Ich merke, dass sie den Sinn dieser Aufgaben trotz des Gesprächs für sich noch nicht erkannt haben. Die Aufgaben, die sich aus den Lerngesprächen ergeben, sind sicher sehr individuell, aber personalisiert, also sinngebend, sind sie offenbar nicht für alle. Von daher sehe ich in den oben genannten zwei Begriffen durchaus qualitative Unterschiede.
Ich sollte den Kindern mehr Möglichkeiten einräumen, um wahrzunehmen, welchen Sinn ihre ganz individuellen Aufgaben besitzen. Wie gelingt das? Kann das überhaupt gelingen, wenn es von außen vorgegeben ist?
NACHTRAG
Wie aus den Kommentaren hervorgeht, versteht Lisa Rosa unter Individualisierung das Gleiche wie ich unter Differenzierung. Ich hatte sie so verstanden, dass Personalisierung eine weitere Stufe der Individualisierung sei. Das hätte aber in meinem Verständnis von Individualisierung bedeutet: ‘Nicht jedes Lernen muss zwingend einen Sinn ergeben.’, was ich ja viel stärker der Differenzierung zuschreiben würde.
Dass Lernen ohne Sinn auch funktioniert, ist kein Geheimnis, wenn ich ans Lernen unter Druck denke, wie es oft beim von Noten getriebenen Lernen geschieht. Nicht steuerbaren Erkenntnis- und Identifikationsprozessen steht aber sinnloses Lernen hingegen wohl eher im Weg.
Lieber Marek,
da bist du wahrlich an einem „Knackpunkt”.
Ich unterscheide deswegen zw. Individualisierung und Personalisierung, weil der Begriff „individualisiertes Unterrichten” so häufig bloß eine Binnendifferenzierung meint: Der Lehrer bietet unterschiedlich schwieriges Material zum selben Gegenstand, eins für die „Gescheiten”, eins für die „Normalen” und eins für die „Doofen”. Darauf läuft es doch meist hinaus!
Wirkliche Individualisierung im Sinne von Persönlichmachen für jeden Einzelnen, kann der Lehrer ja gar nicht alleine, sondern höchstens zusammen mit der jeweiligen Person. Personalisieren, mit persönlichem Sinn verknüpfen, kann genauer gesagt, nur die jeweilige Person selbst. So jedenfalls sieht es A.N. Leont’ev, von dem ich diesen Begriff „Persönlicher Sinn” verwende. Persönlicher Sinn nach Leo kann nur selbst gebildet, gefunden werden, denn er ist eben „persönlich”, er kann nicht gegeben, gestiftet oder gar verordnet oder von außen erklärt werden. Aber natürlich steht der Lehrer nicht bloß als Zuschauer dabei: Im Gegenteil, er muss den Lern„Raum” so gestalten, dass diese persönliche Sinnbildung eben für jeden möglich ist, und er kann durch professionelles Moderieren und Coachen der Lernprozesse kräftig zu dieser Sinnbildung beitragen.
Das Besondere an Leont’evs Kategorie „Sinn” ist: er ist immer persönlich. Es gibt keinen überpersönlichen, gemeinsamen Sinn in diesem Sinne. Leo unterscheidet den Persönlichen Sinn von der „Gesellschaftlichen Bedeutung”. Diese ist, was der Begriff sagt: Gesellschaftlich, objektiviert. Aber über diese Bedeutungen kann man ja auch „streiten”. Diese Bedeutungen sind nicht die Summe aller „Persönlichen Sinn(e)”, und der persönliche Sinn lässt sich auch nicht aus den Bedeutungen ableiten.
Aber diese Bedeutungen sind es, die die Lehrer immer versuchen zu erklären bzw. zu vermitteln, wenn die Schüler eigentlich dringend wissen wollen, was dies oder jenes für sie persönlich für einen Sinn macht. (Dass ich weiß, dass man bei Zinseszinsrechnungen herauskriegen kann, ob die eine Anlage bei der Bank mehr taugen könnte als die andere, macht für mich persönlich noch überhaupt keinen Sinn, vor allem wenn ich gar kein Geld anzulegen habe, wie es für Schüler ja normal ist.)
(Wenn man sich dafür interessiert: in „Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit” beschreibt Leont’ev den Zusammenhang genauer. )
Liebe Lisa,
ich merke immer wieder, wie leicht man aneinander vorbeireden kann, weil man unter ein und demselben Begriff etwas ganz Anderes versteht. Im Artikel Fragen und Antworten zum offenen Unterricht im Punkt „Was ist der Unterschied zwischen Differenzierung und Individualisierung?”, sowie im dort weiterverlinkten Artikel beschreibe ich, wo ich die Unterschiede zwischen diesen Begriffen sehe. Ich stelle fest, dass du mit „Individualisierung”, ich hingegen unter „Differenzierung” das verstehe, was du beschreibst:
„Der Lehrer bietet unterschiedlich schwieriges Material zum selben Gegenstand, eins für die „Gescheiten”, eins für die „Normalen” und eins für die „Doofen”.”
Ich musste bei deinen Worten nochmal an einige Eltern denken, bei denen ich mich fragte: Ist ihnen Sinnbildung für ihr Kind überhaupt wichtig? In einigen wenigen Fällen bezweifle ich das. Da gewinnt das Abarbeiten von Aufgaben einen höheren Stellenwert, es erscheint mir sogar erwünscht. Oder wie ich zu sagen pflege: „Nur ein volles Heft ist ein gutes Heft!” Und es wird zu wenig hinterfragt, welchen Sinn das eigentlich für das Kind macht. Neulich hatte ich ein Gespräch mit zwei Kindern aus einer Klasse: „Warum macht ihr das eigentlich da als Hausaufgabe?” – „Weil wir es machen sollen!” – „Wofür ist das gut, was ihr da macht?” – „Keine Ahnung.”
Wenn ich an die Lerngespräche denke, dann ist es so, dass in den seltensten Fällen zwei Kinder dasselbe machen. Ich folge auch keinem Programm voller Arbeitsblätter und Bücher, das zwar jedes Kind, aber eben zu unterschiedlichen Zeitpunkten und unterschiedlichen, abzuarbeiten hätte. Vielmehr versuche ich zu sehen, was einem Kind helfen könnte an der Stelle im Lernprozess, wo es sich gerade befindet. Dabei greife ich auf Beobachtungen und andere „Dinge” zurück, die ich übrigens neulich an der Uni Koblenz vorgestellt habe. 😉 Die meisten Kinder verstehen auch den Grund, weshalb sie sich eine Zeit lang mit dem einen oder anderen Thema beschäftigen, aber ich bezweifle bei einigen Kindern, dass sie diese Aufgaben als „Bereicherung” für sich wahrnehmen. Müssen sie das überhaupt? Irgendwie wäre mir das aber wichtig, weil sie, denke ich, erst dann diese Aufgaben auch als bedeutsam für sich wahrnehmen. Ansonsten ist es nur das hohle Ausfüllen von Heften.
Ich glaube, wir verstehen uns schon. Diese Differenzierung (Binnendifferenzierung in der Klasse, oder äußere Differenzierung in Schulformen) oder eben auch die gehobene Stufe des Kompetenzrasterlernens hat ja bisher immer behauptet, das Instrument von Individualisierung zu sein. Ist es aber nicht. So siehst du das ja auch, denn du machst offenbar ganz anderen Unterricht. Ich bin noch nicht fertig damit, für mich zu unterscheiden zwischen Individualisierung, Individuation, Personalisierung. Es ist vielleicht nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, dass der Begriff Individualisierung des Unterrichts (nicht des Lernens!) hier eben immer so verstanden wird wie oben. Nur um nicht ewig dieses Verständnis aufzurufen, habe ich mal probehalber „Personalisierung” gesagt. Und es passt eben auch zur Vorstellung des „Persönlichen Sinns”. Der kann übrigens durchaus der sein: „Ich mache es, weil ich soll.” (Nur, dass das immer weniger als Lernmotiv zündet, das ist die Krux des Bildungssystems, das ja schon je das Sollen mit dem WollenSollen verbindet.)
Ob der „Inhalt” des Gelernten als Bereicherung empfunden wird, ist nicht identisch mit Sinn. Der kann ja durchaus sein: „Ich will eine Aufgabe lösen (weil sie mir vorgelegt wurde) und freue mich, wenn ich es geschafft habe.” Das ist doch auch Sinn? Und Bereicherung (des Selbstwertgefühls)? Der „Inhalt” muss dabei vielleicht gar nicht so wichtig sein, und wird dann auch nicht als wesentlich bereicherndes wahrgenommen. Und dass die Befriedigung im Selbstwert einen „Inhalt” des Lernens darstellen könnte, das muss man ja erst mal reflektiert empfinden und artikulieren können!
Danke für die Anregungen. Sehr spannend!
A propos, sollen, wollen sollen… Kennst du das Zitat schon? 🙂
https://www.skolnet.de/unterricht/uber-mich/