Seitdem ich „offen” unterrichte, stelle ich immer wieder zwei Dinge fest:
- Manche Kinder arbeiten zwar selbstständig, aber nicht immer so, wie ich es mir wünschen würde.
Ein Beispiel: Ein Kind in der Klasse, normal intelligent, wählt seine Aufgaben überwiegend nach dem aus, wonach sich zwei seiner Freunde entscheiden. Das Kind wirkt wie von außen gesteuert und hat meiner Einschätzung nach immer noch keinen Zugang zu seinem Lernen, seinen eigenen Lernwegen entwickelt. So wie ich das Kind einschätze, hat es vielmehr ein hohes Bedürfnis nach Anerkennung durch seine „Freunde”. Das Problem ist in meinen Augen, dass dieses Kind so sein mögliches Leistungspotenzial nicht abruft. Genauer möchte ich darauf hier aber nicht eingehen.
- Ich habe mich als Lehrer meist eher zurückgehalten, spürte aber regelmäßig, dass ich mich doch mehr einbringen wollte.
Ein Beispiel: Als begeisterter Biolehrer hätte ich mir im letzten Schuljahr gewünscht, noch intensiver am Thema Wald zu arbeiten, was ich aber sein ließ, da ich sonst viele Kinder von der Arbeit an ihren Themen abgehalten hätte. Bei beiden Punkten geht es bei genauerer Betrachtung um mich, um das, was ich gerne hätte, um das, was ich mir vorstelle und erwarte. Schon seit langem habe ich mich daher gefragt, wie ich beide Seiten, die Bedürfnisse der Kinder nach Autonomie bei ihren Themen, Lernwegen etc. und meinen Bedürfnissen nach mehr Präsenz in Einklang bringen kann. Und das nach Möglichkeit, ohne dass ich dabei wieder in die Muster von Belehrung und Kontrolle zurückfalle, von denen ich natürlich auch insbesondere im schulischen Umfeld von Kindesbeinen an geprägt bin.
Eine mögliche Lösung des Problems sehe ich in sogenannten Lerngesprächen, die ich in diesem Schuljahr regelmäßig mit jedem Kind führen werde. In dieser noch eher turbulenten Woche bedingt durch eine Generalprobe, dem Auftritt des Schulchors, der Einschulung und anderer organisatorischer Dinge gelang es mir trotzdem mit nahezu jedem Kind ein persönliches Gespräch zu führen.
Ein solches Lerngespräch gestaltete sich in etwa so:
- Wo siehst du deine nächsten Lernschritte?
- Was denkst du, erwarte ich von dir?
- Ich möchte, dass du…
Ich beschränkte mich dann auf die Bereiche Deutsch und Mathe und auf jeweils ein Thema, damit es für die kommenden 2–3 Wochen für die Kinder auch überschaubar bleibt. Heute sagte ein Kind beispielsweise, dass es sich mit geometrischen Körpern beschäftigen wird und seine Rechtschreibung verbessern möchte. Bei allzu großen Themenfeldern, wie zum Beispiel der Rechtschreibung, habe ich dann nachgehakt und gefragt: Was genau meinst du? Wie willst du dich verbessern? Brauchst du Hilfe von mir etc.? Das Kind wünschte sich Hilfe und ich schlug ihm zwei, drei Dinge vor, von denen es sich dann eines aussuchte. Es war von meinen Ideen zwar nicht restlos begeistert, aber eine Entscheidung musste eben her. So wird das Kind sich in den nächsten Tagen vermehrt mit Fehlertexten beschäftigen und hat parallel dazu auch die Zeit, eigenen Interessen und Themen nachzugehen.
Damit ich weiß, wo die nächsten Lernschritte der Kinder liegen, greife ich auf die üblichen Beobachtungen zurück, auf Einblicke in Schülerarbeiten und die von mir so bezeichneten Mini-Diagnosen, auf die ich zu einem späteren Zeitpunkt eingehen werde.
Jedes Gespräch dauerte insgesamt etwa drei bis maximal fünf Minuten, während die anderen Kinder selbstständig mit ihren Arbeiten beschäftigt waren. Für alle Kinder brauche ich rechnerisch also insgesamt etwa 1–1,5 Stunden. Wenn ich voraussichtlich alle 2–3 Wochen täglich 3–4 solcher Lerngespräche, habe ich also bei meiner Unterrichtsorganisation noch ausreichend Zeit, um mich an diesen Tagen auch um andere Kinder zu kümmern. Wie sich die weiteren Lerngespräche inhaltlich gestalten werden, ob ich sie nicht häufiger oder seltener führen werde, weil sich das „Feld” insgesamt entzerrt, bleibt abzuwarten.
Beim Schreiben kommt mir die Idee, wieder ein Lerntagebuch einzuführen, wo die Kinder die Arbeit an den Themen aus dem Lerngespräch reflektieren, anhand von Beispielen zeigen / belegen, was sie gelernt haben quasi eine Zusammenfassung… Hmmm…
Schlussbemerkung: In der kommenden Zeit werde ich für die Aufgaben an den Wochenenden wieder auf die Methode Lernpartner zurückgreifen, für die die Kinder mittlerweile reif sein müssten.
Weitere Informationen: Beitrag zur Chancengleichheit
Hallo, ich bin zufällig auf Ihren Beitrag gestoßen, weil ich mal sehen wollte was Google zu dem bei unserer Tochter anstehenden Lerngespräch anstelle des Zwischenzeugnisses hergibt. Vorausgeschickt sei, dass wir ein sog. Akademiker-Elternhaus sind und drei Kinder haben. Zwei unserer Kinder besuchen die Grundschule (1. und 4.) und so haben wir bereits einige Neuerungen und Versuche in der Grundschulpädagogik bestaunt. Unsere Kinder sind sehr gute Schüler und machen ihre Hausaufgaben. Jeden Tag. Das tun sie,weil wir es von ihnen verlangen. Was Sie sagen, klingt, als ob ein Kind allein dadurch optimal lernen würde, dass man es alles selbst entscheiden lässt. Das ist ebenso fatal wie falsch. Täten wir das, würden unsere Kinder wahrscheinlich eher selten Hausaufgaben machen und stattdessen lieber fernsehen. Die Selbsteinschätzung von Kindern im Grundschulalter ist gewöhnlich noch sehr begrenzt und ich finde es völlig falsch anzunehmen, man könnte und müsste das dadurch ändern, dass man als Autoritätsperson seine Autorität auf die Schultern der Kinder lädt. Kinder sollen Kind sein können und dazu gehört, dass sie ihre Pflichten erfüllen und danach völlig frei ihren Interessen nachgehen können. Eine Pädagogik, die die Kinder in so frühem Alter bereits dazu zwingt, sich permanent selbst zu reflektieren, produziert neurotische Kinder, die entweder nur versuchen, die Erwartungen ihrer Lehrkraft zu erahnen und zu erfüllen, oder aber rebellieren und die Freiheit, die ihnen dieses System lässt, missbrauchen. Es liegt in der Natur eines Kindes, dass es einen sicheren Rahmen braucht und den bieten weder Eltern, die die Verantwortung für den schulischen Erfolg ihrer Kinder auf die Schule abwälzen, noch Lehrkräfte, die sich selbst und ihre Lehre so oft reflektieren bis nichts mehr davon für die Kinder greifbar ist.
So facettenreich wie Eltern ihre Kinder erziehen können, so unterschiedlich und vielfältig kann Schule sein. Ich spreche in diesem Artikel nicht davon, wie Kinder „optimal lernen”, sondern davon, wie ich die Bedürfnisse und Interessen der Kinder mit den schulischen Erwartungen und Anforderungen, die ich vertrete, in Einklang bringen kann. Ein Baustein dessen waren und sind die „Lerngespräche”. Das Vermögen zur Selbsteinschätzung ist bei älteren Grundschulkindern im übrigen größer, als ich erwartet hätte. Das hat nichts damit zu tun, Autorität abzugeben.
Sie schreiben: „Eine Pädagogik, die die Kinder in so frühem Alter bereits dazu zwingt, sich permanent selbst zu reflektieren, produziert neurotische Kinder, die entweder nur versuchen, die Erwartungen ihrer Lehrkraft zu erahnen und zu erfüllen, oder aber rebellieren und die Freiheit, die ihnen dieses System lässt, missbrauchen.”
Wie wäre es, wenn Sie eine Zeit lang in unsere (staatliche) Schule kommen und sich ein eigenes Bild machen, bevor Sie diesen pauschalen und denkbar fragwürdigen kausalen Zusammenhang herstellen? Sie sind herzlich eingeladen! Bei Interesse können Sie auch ehemalige Schülerinnen und Schüler kennen lernen und sie auf neurotische Folgen und rebellisches Verhalten hin untersuchen. 😉
Es ist eben nicht so einfach und derart schwarz-weiß, wie Sie es – ich vermute – aus Winterhoffs Werken heraus lesen. Herr Winterhoff betrachtet und er bezieht sich auf die klinischen Fälle. Er verallgemeinert seine Thesen aber nicht zu allgemeingültigen Erziehungsanweisungen, wie Sie sie, so mein Eindruck aus Ihrem Beispiel mit den Hausaufgaben, abzuleiten scheinen.
„Es liegt in der Natur eines Kindes, dass es einen sicheren Rahmen braucht…”
Dem stimme ich voll zu.
„…und den bieten weder Eltern, die die Verantwortung für den schulischen Erfolg ihrer Kinder auf die Schule abwälzen, noch Lehrkräfte, die sich selbst und ihre Lehre so oft reflektieren bis nichts mehr davon für die Kinder greifbar ist.”
Auch hier stimme ich dem ersten Teil zu. Der Teil mit den „Lehrkräften” erscheint mir erneut sehr pauschal und ist mir unverständlich. Hier hätte ich mir gewünscht, dass Sie genauer und klarer formuliert hätten.
Lesetipp: Grundformen der Angst
Hallo,
ich bin ganz fasziniert von der Sorgfalt, die in Ihrer Website liegt.
Wir haben als Familie Erfahrungen mit Lerngesprächen – auch wenn sie anders genannt werden. Auch die Elterngespräche finden mit Kind statt und enden damit, dass Kind und Lehrkraft eine Vereinbarung oder ein Ziel für die nächsten Wochen oder eine grundlegende Veränderung o.ä. abmachen. Auch wenn mir tausend Dinge einfallen würden, möchte ich mich auf den Kommentar beziehen.
Die Selbsteinschätzung der Kinder halte ich für durchwegs realistisch. Und es gibt sicher einen Mittelweg zwischen permanenter „Nabelschau” (Selbstreflexion) und einer gesunden Fähigkeit sich und seine Fähigkeiten bzw. Ziele realistisch einzuschätzen. Permanente Selbstreflexion hat vielleicht etwas neurotisches, aber davon wird im Zusammenhang mit Lerngespräch etc. hier ja gar nicht gesprochen.
Auch zum Thema Hausaufgaben bzw. vielleicht eher Selbstorganisation kann ich ihnen nur widersprechen. Meiner Kinder machen nicht Hausaufgaben, weil ich es fordere, sondern weil sie wissen, dass es zum einen IHRE Pflicht ist und zum anderen sie nur dann etwas gut können und sich schwierigeren Dingen widmen können oder ein Referat o.ä. beginnen dürfen.
Natürlich ist es MEINE Pflicht, die Kinder zu begleiten, ihren Aufgaben nachkommen (je nach Alter sicher etwas abgestuft). Dass ich im Auge habe, was sie noch zu tun haben. Aber für mich ist es eine andere Haltung, die mich als Mutter antreibt. Vielleicht vereinfacht ausgedrückt in zwei unterschiedlichen Sätzen:
Mach Deine Hausaufgaben
oder Hast Du noch etwas für die Schule zu tun? Wann tust Du es? Was ist es, was Du tun musst?
Wenn meine Kinder mal etwas nicht getan haben, haben sie auch die Konsequenzen in der Schule zu tragen. UND ich erwarte natürlich von der Lehrkraft, dass sie auch auf Nicht-Erstellen der Hausaufgaben o.ä. mit einer von ihr festgelegten Konsequenz reagiert – hat bisher immer funktioniert!!
Aber für mich ist, das eben eine Baustelle zwischen Kind und Lehrkraft. Ich bin als Mutter oder wir als Eltern sind die Begleiter der Kinder, die interessiert sind, helfen, Ratschläge geben und vieles mehr. Aber ich sehe mich nicht als Antreiber, Kontrolleur oder ähnliches.
Dass dies für die Kinder auch nicht immer leicht und vielleicht auch unbequemer ist, als immer die Instanz „Mama erinnert mich schon dran, wenns brenzlig wird” im Nacken zu haben, glaube ich wohl.
Aber meine Kinder (Kl. 2 + 5) zeigen, dass es der richtige Weg, das Glück guter Pädagogen war und hoffentlich auch bleibt. Meine Kinder sind keine Hochleistungskinder oder Überflieger, aber sie haben noch nie einen Turnbeutel zuhause vergessen, weil Mama nicht dran dachte 😉 Und darin sehe ich meine Erziehungsleistung vielmehr als Kontrollfunktion über Kind und am besten noch Lehrkraft auszuüben 😉