Frank D. Boynton, der Vorsitzende der Schulräte in New York, bat seine Kollegen vor vielen Jahren um die Lösung eines drängenden Problems:
Was können wir aus den Lehrplänen der Schulen streichen, damit sie nicht weiter überfrachtet werden?
Einer der Empfänger war Louis P. Benezet, der mit diesem Vorschlag antwortete:
Wir sollten auf Inhalte verzichten, die die Kinder später viel schneller lernen. Dazu zähle ich die formale Arithmetik.
Vor längerer Zeit übersetzte ich den ersten Teil eines mehrjährigen Versuches, in denen auf die formale Arithmetik in den frühen Jahrgängen gänzlich verzichtet wurde (siehe: Macht weniger Arithmetik erfolgreicher in Mathe? (Teil 1)). Heute endlich veröffentliche ich den zweiten Teil des 3‑teiligen Dokuments.
Der Lehrplan Mathematik (New Hampshire, USA)
Der von Luois Benezet entwickelte Lehrplan, der an mehreren Schulen umgesetzt wurde, entstand aus der Notwendigkeit heraus, einen Kompromiss mit der Schulbehörde eingehen zu müssen. Gerne hätte Benezet auch weiterhin auf die formale Arithmetik vom 1. bis zum 7. Schuljahr verzichtet, hatte er doch zu diesem Zeitpunkt bereits nachgewiesen, dass es keinerlei Unterschiede im arithmetischen Können zwischen den „Versuchsklassen” und den „normal” unterrichteten Klassen gab. Aber die „Vorurteile der gebildeten Bürger” [1], wie er schrieb, gegenüber dem Verzicht auf formaler Arithmetik in den frühen Klassen waren (und sind) zu tief verankert, weshalb der Lehrplan notwendig wurde.
Klasse 1
- keine formale Arithmetik
- Zahlen wiedererkennen und lesen bis 100
- Vergleiche: viele / wenige, mehr / weniger, höher / tiefer, schneller / langsamer, früher / später, breiter / enger, kleiner / größer etc.
- Datum am Kalender ablesen
Alle genannten Inhalte wurden behandelt, wenn sie sich im Klassengeschehen ergaben, vor allem bei der Orientierung in einem Buch (Seitenzahlen).
Klasse 2
- keine formale Arithmetik
- Weiterarbeit an den Vergleichen
- Uhr / Uhrzeit (volle und halbe Stunden)
- Geld (nickel, dime, dollar…)
- Seitenzahlen in Büchern, Index (Stichwortverzeichnis) zur Orientierung im Buch nutzen
- Wochen‑, Monatsnamen und Jahr
- Begriffe: halb, doppelt, zweimal, dreimal… (aus den Kinderspielen heraus)
Der Lehrer führt keine Begriffe ein, solange die Kinder sie nicht bereits im Spiel natürlich verwenden.
Klasse 3
- keine formale Arithmetik
- die Bedeutung des Zahlenwertes
- Geldwerte
- Uhr: zunächst Uhrzeit nennen, z.B. 3.50 Uhr, 2.35 Uhr – später genaue Uhrzeiten nennen: 10 min bis 4 Uhr, 25 min bis 3 Uhr
- 7 Tage hat eine Woche, 24h ein Tag
- Zahlen zählen wird weiter geübt, da die zu lesenden Bücher immer dicker werden
- Zahlen in der Umwelt: Hausnummern, KFZ-Kennzeichen etc.
- Vergleiche werden fortgesetzt insbesondere „die Hälfte”, „das Doppelte”, „das Dreifache” etc.
Klasse 4
- immer noch keine formale Arithmetik
- Längenangaben mit Hilfe des Körpers, besonderer Schwerpunkt lag auf dem Abschätzen von Längen. Jedes Kind war aufgefordert, sich beliebige Gegenstände auszusuchen, ihre Länge zu schätzen, sie aufzuschreiben und mit Maßband nachzuprüfen
- Thermometer – unter Berücksichtigung der Bedeutung der Temperatur (z.B. Was bedeutet es, wenn es 5 Grad kalt ist?)
- Quadratzentimeter, ‑meter
- Mit Spielgeld Geld wechseln (auf 5 Cent genau), aber nur noch abstrakt im Kopf. Alle krummen Beträge, die zu schwer für den Kopf des Einzelnen sind, werden in den späteren Jahrgängen aufgegriffen.
- Uhrzeit (Sekunden, Minuten, Tage)
- Gewicht (Gramm, Kilogramm)
Bis zum Ende von Klasse 4 haben die Kinder ausführlich und eine Fülle von Größen und ‑verhältnisse geschätzt, nachgemessen und überprüft.
Ab Klasse 5 unterscheidet Benezet A- und B‑Kurse.
Klasse 5‑B
- noch immer keine formale Arithmetik
- Schüler zählen im Kopf Vielfache von 5, 10, 2, 4 und 3, was zur Mutiplikation führt
- das Schätzen und Nachmessen von Größen wird fortgeführt, Schüler erstellen eigene Schätzbücher
Zum Ende des „Semesters” erhalten die Schüler das Buch „Practical Problems in Mental Arithmetic, grade IV”. Der Zweck des Buches liegt darin, die Schüler zum zügigen Denken anzuregen und dabei auf Hilfsmittel zu verzichten. Es müsse unter allen Umständen vermieden werden, dass die Schüler die Idee bekämen, dass Aufgaben „mit Hilfe von Schema X und ohne Verstand” bewältigt werden könnten! Das Buch enthält Aufgaben, in denen Tabellen, Kombinationen und „denominations” vorkommen (die genaue Übersetzung erschließt sich mir hier nicht, siehe auch „LEO”), die bislang noch nie im Unterricht angesprochen worden sind. Kinder aber, so die Erfahrung Benezets, die ein natürliches Gefühl für Zahlen entwickelten, hatten damit keine Schwierigkeiten.
Klasse 5‑A
- noch immer keine formale Arithmetik
- Zählen im Kopf in Vielfachen von 6, 7, 8 und 9, was zur Multiplikation führt. Dabei wird darauf geachtet, dass die Kinder verstehen, warum die Einerstelle der Vielfache von 9 (27, 36, 45…) immer um eins kleiner wird (Weil es die Addition mit 10 ‑1 darstellt, so wird auch mit der 8er-Reihe etc. verfahren)
- Kommutativgesetz der Multiplikation
- 1/2, 1/4, 1/5 und 1/10
Es werden die Aufgaben der zweiten Hälfte des Buches „Practical Problems in Mental Arithmetic, grade IV” bearbeitet.
Klasse 6‑B
- Beginn mit formaler Arithmetik (20–25 min täglich)
dazu werden die ersten 108 Seiten des Buches „Strayer-Upton Arithmetic, book III” genutzt - formale Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division
- Genauigkeit geht vor Geschwindigkeit
- Es geht darum zu verstehen, wie das formale Verfahren zustande kommt (und damit geht es über das stupide Anwenden des Verfahrens hinaus)
- Stets wird darauf geachtet, dass bevor das Ergebnis ausgerechnet wird, die Schüler das Ergebnis abschätzen.
Klasse 6‑A
- Beginn mit formaler Arithmetik (20–25 min täglich)
dazu werden die Seiten 109–182 des Buches „Strayer-Upton Arithmetic, book III” und die ersten 50 Seiten von book IV genutzt - Reflektieren der bisher erlernten Multiplikationstabellen und ihren Ergebnissen
Weiterhin gilt der Grundsatz: Nachdenken und Abschätzen geht vor Rechnen! Das formale Hantieren mit den Zahlen ist also dem Nachdenken über das mögliche Ergebnis untergeordnet!
ab Klasse 7‑B / 7‑A und 8‑B / 8‑A
Benezet führt die Arbeit mit dem Buch „Strayer Upton Arithmetic” fort. Er betont immer wieder, dass bei aller Arbeit immer im Vordergrund stehen muss:
- das Nachdenken und Begründen von Lösungswegen!
- das Berechnen von Lösungen im Kopf!
- das Abschätzen / Überschlagen des Ergebnisses VOR dem eigentlichen Rechnen!
Damit endet das zweite Dokument von Louis Benezet.
Fortsetzung folgt (Teil 3)… unter anderem die erstaunlichen Ergebnisse des Experiments!!
Quellenverweise
[1] http://www.inference.phy.cam.ac.uk/sanjoy/benezet/2.html