Wenn ein Kind sich in den ersten zwei Schuljahren beim Lesen und Schreiben schwer tut, kann das für alle Beteiligte – Kind, Eltern, Lehrer – sehr belastend sein. Umso wichtiger ist es, die Ursachen für die Lernschwierigkeiten zu erkennen (Diagnose), um darauf aufbauend eine passende Förderung zu ermöglichen (Intervention) (vgl. das Prinzip des → evidenzbasierten Lernens bei Hattie).
Eine treffende Diagnose und die angemessene Intervention – im Idealfall durch Schule, Eltern und externen Fachleuten – bedeutet nicht zwangsläufig, dass das betreffende Kind nun rasend schnell schreiben und lesen lernen wird. Auch jetzt kann es noch so sein, dass die Lernerfolge sich nur in vergleichsweise kleinen Schritten zeigen.
Manche Faktoren, die eine Lese- und Rechtschreibstörung (LRS) bedingen, können von Lehrern besser diagnostiziert und „behandelt” werden als andere. Im Folgenden liste ich zunächst bisher bekannte Faktoren (Risikofaktoren) auf, die eine LRS begünstigen:
Biologische Faktoren
- genetische Faktoren, die sich auf die Informationsverarbeitung im Gehirn auswirken (Hinweise liefern Familien- und Zwillingsstudien)
- Symmetrien in den Temporallappen beider Hinrhälften scheinen eine LRS zu begünstigen
Psychologische Faktoren
- visuelle Wahrnehmung: Dysfunktion der Augenbewegung
- auditive Wahrnehmung: Defizit im Hören von Sprache, z.B. bei der Unterscheidung von b, p, d, g
- phonologische Bewusstheit: Defizite in der Fähigkeit, Wörter in Silben zu zerlege und Silben zu einem Wort zusammenzusetzen (Anlaute erkennen, aus Lauten ein Wort bilden, ein Wort in Laute zerlegen) Phonologische Bewusstheit ist ein wichtiger Prädikator für spätere Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben.
- Gedächtniskapazität: Defizite im kurz- und/oder langfristigem Speichern von Gelernten Buchstaben-Laut-Kombinationen
- Motivation und Interesse: Vor allem langfristig ein Problem, wenn betreffende Kinder stigmatisiert sind und dem Lesen- und Schreibenüben aus dem Weg gehen.
Soziale Faktoren
- Schichtzugehörigkeit der Eltern/Familie, die zu nachteiligen Lernvoraussetzungen zu Beginn von Klasse 1 führen können
- Anzahl der Geschwister: Später geborene Kinder können weniger Aufmerksamkeit durch Eltern erhalten (z.B. weniger Zeit zum gemeinsamen Vorlesen).
- geringe emotionale Unterstützung durch die Eltern/Familie
- Leseverhalten außerhalb der Schule und Fernsehkonsum: Je mehr Zeit für Fernsehen und Videospiele, desto weniger Zeit verfügen betreffone Kinder für das Lesen.
Quelle: Schleider, Karin: Lese- und Rechtschreibstörungen. München, E. Reinhardt Vlg., 2009. (34–47)
Anmerkung: Wenn sich eine LRS entwickelt, treffen mehrere Faktoren aufeinander. Aber selbst wenn mehrere dieser Risikofaktoren vorhanden sind, folgt daraus nicht zwangsläufig, dass das Kind eine LRS entwickelt. Denn es gibt auch sog. Protektivfaktoren, die sich hemmend auswirken, z.B. eine gute Intelligenz, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle/-regulation, Früherkennung und Förderung, positive Erfahrungen bei Hobbys etc.
Die obige Liste zeigt klar, dass Schule auf viele Faktoren keinerlei Einfluss hat. Die sozialen Faktoren vor und während des Schuleintritts liegen in der Hand der Eltern, so wie auch die biologischen. Manche der Risikofaktoren können sinnvoll in der therapeutischen Einzelfallhilfe behandelt werden. Und wiederum andere könn(t)en im Gespräch zwischen Schule und Eltern positiv beeinflusst werden. Logopädie ist in sehr schwierigen Einzelfällen ratsam! Günstig ist, wenn Logopäden und Lehrer Kontakt haben. Ein ganz wesentliches Gebiet der Logopädie ist es nämlich, die phonologische Bewusstheit ihrer „kleinen Klienten” positiv zu entwickeln.
Schule und speziell Lehrer sollten einige der psychologischen Faktoren beeinflussen. Dies gilt besonders für die phonologische Bewusstheit und die Motivation für Lesen und Schreiben. Aber um das zu ermöglichen, muss meiner Meinung nach zunächst noch eine ganz wesentliche Voraussetzung geschaffen sein: Lehrer müssen sich von dem selbst auferlegten Stress befreien, noch so und so viel durchziehen / erledigen zu müssen.
Alle Kinder insbesondere die lernstarken profitieren für den weiteren Lese- und Schreibprozess von einer besonders gut entwickelten Bewusstheit für Laute und ihre Feinheiten. Hierfür müssen sich Lehrer in den ersten zwei Schuljahren viel Zeit nehmen! Der Rechtschreiberwerb vollzieht sich → in mehreren Phasen, die sich überlappen. Es macht also bis ins 4. Schuljahr hinein Sinn, Wörter auf ihre Lautqualitäten zu untersuchen. Zudem proftieren rechtschreibschwache Schüler von einem Regeltraining inkl. Lösungsstrategien (Nomenbildung, Auslautverhärtung / Pluralbildung usw.) ab etwa dem 3. Schuljahr und durch eine zusätzliche Förderung durch ihre Eltern!
Leider herrschen bei der Förderung große fachliche Lücken bei Lehrern, was u.a. von Prof. Dr. G. Thomé, zum Beispiel in → ABC und andere Irrtümer über Orthographie, beklagt wird. Thomé, der den Rechtschreiberwerb empirisch beforscht, macht dafür auch die universitäre Ausbildung verantwortlich, da dort häufig ein fehlendes Interesse für Rechtschreibung herrsche. Was dort versäumt worden ist, müssten sich im Dienst stehende Lehrer nachträglich aneignen. Literatur ist dazu mittlerweile → ausreichend vorhanden.
Weitergehende Informationen
- Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität München: Info Legasthenie / Häufige Fragen
- Schulte-Körne, G.: Diagnostik und Therapie der Lese-Rechtschreib-Störung (Dt. Ärzteblatt)
Ein interessanter Artikel! Danke! Ich habe selbst eine Schülerin, die LRS hat und große Probleme, b, d etc. zu unterscheiden… Ich stimme dir total zu, die Rechtschreibung wurde in der Uni – zumindest bei mir – kaum behandelt. Schade!!!
Hast du denn auch konkrete Tipps für Lehrer – außer die Literaturlinks?
Liebe Grüße
Anna
Ohne fachliches Grundlagenwissen ist es schwer, kompetent zu fördern. Es scheitert dann ja schon an der Diagnose. Literatur ist also sehr, sehr wichtig! Diesbezüglich habe ich hier immer wieder kleinere Beiträge verfasst.
Auch kann ich dir empfehlen, Kontakt zu Logopäden herzustellen. Wenn ein Kind aus der Klasse LRS hat, schaue dir doch einmal an, wie so eine Stunde logopädische Therapie aussieht. Sabine Kruber hat mir vor einiger Zeit geschrieben, dass sie erfolgreich die Minimalpaartherapie nutzt, wenn sie Kinder mit Problemen in der Lautunterscheidung hat. ABER das ist eben nur EIN(!!!!) Baustein für manche Fälle und nicht ein Allheilmittel für alle (siehe oben die Vielzahl an Risikofaktoren)!
…hmmm, vielleicht schreibe ich auch mal etwas dazu, wie ich diagnostiziere.
Also ich würde mich freuen! 🙂 Aber schon mal danke für die Anregungen!! Muss ich mal schauen, was das Budget hergibt – wobei das ja eine langfristige Anschaffung ist, denn LRS-Kinder gibt es ja immer mal wieder.…
Insgesamt möchte ich an dieser Stelle mal ein Kompliment machen, ich finde es toll, dass du Theorie und Praxis auf deiner Seite so toll verknüpfst und Themen aufgreifst, die in der Praxis auch wirklich relevant sind. Danke!! Ich lese sehr gerne hier!!!
Schau’ für den Anfang doch bei alphaPROF vorbei. Das Projekt – damals noch im Aufbau befindlich – wurde mir von Prof. Thomé empfohlen. David Gerlach, der das Projekt leitet, erinnerte mich gestern an alphaPROF, und dass ich da endlich ‘reinschauen muss. Eines der wirklich guten Dinge ist: Du kannst bei alphaPROF die zu bearbeitenden Themen mit deinen Fragen und Anregungen mitbestimmen!
Empfehlenswert ist auch „Band 5 – Legasthenie – Lese-Rechtschreibstörungen oder Lese-Rechtschreibschwierigkeiten?” der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben (DGLS).
Ebenso empfehlenswert ist die „Handreichung zur phonologischen Bewusstheit”. Zu finden bei den Förmig Materialien, siehe dort bei Materialien zum Sprachlernen in Kitas und Grundschulen (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport.
Tausend Dank für die Linktipps! Da schau ich gleich vorbei!!! 😉
Der Hauptgrund für eine angelernte Lese- und Rechtschreibschwäche ist im eigenständigen Schreiben mit einer Anlauttabelle und dem Lesen durch Schreiben begründet. Der Anteil von Schülern mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche liegt in allen anderen Ländern bei ca. 5 %. Durch Lesen durch Schreiben erreichte man laut Marburger Studie von 2002 bis 2004 satte 27 % Schüler.mit einer Rechtschreibschwäche! Es lebe die Reformpädagogik der Damen und Herren Brügelmann,/Reichen/Brinkmann/Barnitzki/Urbanek und Sommer-Stumpenhorst. Man könnte dem durch die Einführung strukturierter Lese-(Kieler Leseaufbau/Luka-Leselernbuch/Veris-Verlag) und Schreiblehrgängen, z.B. Mildenberger ABC der Tiere, entgegenwirken. Das würde aber der Reputation der oben aufgeführten Damen und Herren entgegen wirken.Außerdem hätten sie weniger Einnahmen aus ihrem eigenen Schulbuchmarkt zu verkraften.Und das will doch sicher niemand im Düsseldorfer Kultusministerium.
Sehr geeehrter Herr von Lintig, ganz ehrlich, Sie haben hier in den letzten Tagen auf meiner Seite eine ganze Reihe an Kommentaren hinterlassen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Aber langsam nervt mich Ihre vereinfachende Sicht auf den Lese- und Rechtschreiberwerb. Wenn Sie die zurückgehenden Lese- und Rechtschreibleistungen von Schülern nur auf eine einzelne Methode zurückführen, dann ist das schlicht und ergreifend anmaßend von Ihnen. Da hilft auch Ihr Verweis auf die Studie von Schulte-Körne keineswegs weiter. Denn die Methode Lesen-durch-Schreiben wird meiner Erfahrung nach, vor allem aber meines Wissens nach nur in den allerwenigsten Grundschulen in Reinform praktiziert. Und trotzdem gehen die Rechtschreibleistungen zurück. So simpel ist die Welt nicht, wie Sie sie hier darstellen.
Lesen durch Schreiben lehne ich ebenso ab, meine allerdings, dass ein eigenständiges Schreiben von Anfang an wichtig ist. Unterstützt wird dies durch Lauttierungsübungen (Lautdifferenzierung und Segmentierung) und vielerlei Sprachspiele. Ich bevorzuge aber die Vokalquantitätsmethode, die es den Schülern (auch mit Migrationshintergrund) möglichst einfach macht. Darauf aufbauend kommt die morphematische Strategie hinzu, bei der ausgehend vom Wortstamm abgeleitet werden kann. Die großen Vorteile der Silbenmethode sind mir unbekannt (vielleicht klärt mich jemand auf). Ich nehme nur Bezug auf den Schriftspracherwerb (nicht den Leselernprozess). Interessant hierzu die Kritik an der Arbeit mit Silben von Sasse/Valtin (Häufige Schreibungen zuerst, in: Deutsch differenziert 01/2016), Corvacho del Toro, Metze (www.wilfriedmetze.de/html/theorie.html) etc. Leider breitet sich durch die „neue” (alter Wein in neuen Schläuchen?) FRESCH-Methode die Silbenmethode weiter aus (siehe vor allem Lehrwerke aus BAWÜ und ihren oft flächendeckenden Einsatz im einst erfolgreichen Bundesland), weil die Verlage einen Stempel mit Garantie auf den Rechtschreiberfolg drauf drucken. Bei anderen Lehrwerken wurde die Methode schon erweitert (da heißt es FRESCH+) und um die Vokalquantitätsmethode ergänzt. Vielleicht wäre es aber zielführender und für die Kinder nicht so verwirrend, wenn man nur mit einer Methode arbeiten würde (siehe auch Thomé, ABC und andere Irrtümer).