In der Grundschulordnung (GSO) von Rheinland-Pfalz in Abschnitt 1, § 1 heißt es:
(1) Die Grundschule führt die Schülerinnen und Schüler in das schulische Lernen ein. Sie befähigt sie zum selbstständigen und gemeinsamen Lernen und Handeln. Sie leitet zur Übernahme von Werten, Einstellungen und Haltungen im Sinne des § 1 des Schulgesetzes (SchulG) an. Sie bietet den Schülerinnen und Schülern Hilfen und Orientierung und fördert ihre individuelle Entwicklung.
Wer den letzten Satz genau liest, stellt fest, dass darin ein sehr hoher Anspruch an den Unterricht gestellt wird. Unterricht fördert die individuelle Entwicklung. In Nordrhein-Westfalen können Eltern diese Förderung sogar vor Gericht einklagen. Bei 20 und mehr Kindern in einer Klasse ist die Förderung der individuellen Entwicklung für einen Lehrer aber kaum zu leisten, wenn er alle Kinder zugleich beschult. Denn diejenigen Kinder, die überfordert oder unterfordert werden, erfahren keinen individuellen Lernzuwachs.
Es stellt sich also die Frage nach den Konzepten, wie man laut GSO auf die verschiedenen Niveaus einzugehen hat?
In der pädagogischen Praxis wird ganz allgemein zwischen äußerer und innerer Differenzierung unterschieden. Äußere Differenzierung meint alle Maßnahmen, die das Ziel verfolgen, eine homogene Lerngruppe herauszufiltern. Das kann die Trennung in Haupt‑, Realschule und Gymnasium, innerhalb einer Schule in A‑, B- und vielleicht C‑Kurse, Kinder im Förderunterricht etc. sein. Innere Differenzierung meint sämtliche Maßnahmen, die innerhalb einer Klasse durchgeführt werden. In Deutschland ist die Grundschule die einzige obligatorische Gesamtschule für alle Kinder. Von daher sitzen in jeder Klasse Kinder, die später auf drei verschiedene Schultypen bzw. am Schullaufbahnende mit drei verschiedenen Abschlüssen dastehen werden.
Möglichkeiten der inneren Differenzierung
Der Lehrer gibt Aufgaben vor, die er in zwei, drei oder mehr Schwierigkeitsstufen (inhaltliche, qualitative Differenzierung) oder Umfängen (mengenmäßige, quantitative Differenzierung) teilt. „Wer fertig ist, rechnet noch die Aufgabe 6.”, „Wer fertig ist, holt sich vorne ein neues Arbeitsblatt. Ihr dürft euch eins aussuchen.” etc. Wochenpläne können verschiedene vom Lehrer vorgegebene Lernniveaus enthalten, bisweilen dürfen die Kinder vielleicht zwischen einzelnen Aufgaben wählen. Bei gleicher Aufgabe kann noch in verschiedene Methoden und Medien differenziert werden. Einige schreiben einen Text am Computer, ins Heft oder stempeln ihn beispielsweise auf Papier. Andere arbeiten alleine oder sollen mit einem Partner oder in einer größeren Gruppe zusammenarbeiten.
Vorteile: Die Kinder können auf verschiedenen Niveaus lernen.
Nachteile: Die vorgegebenen Schwierigkeitsstufen erreichen niemals alle Kinder, da es in den Klassen mehr als zwei oder drei Leistungsniveaus gibt. Was machen die Kinder, die bereits mit dem schwächsten vom Lehrer vorgegebenen Niveau überfordert sind? Was machen die Kinder, die mit dem anspruchsvollsten Niveau unterfordert sind? Aber auch: Möglicher Stigmatisierungseffekt von Kindern, die immer nur die schwächsten Aufgaben bewältigen.
Bei der Differenzierung von oben verbleibt der Lehrer in seiner traditionellen Rolle des „Stoffvermittlers”, Kontrolleurs und Lernarrangeurs. Der Lehrer bestimmt nach wie vor, wie und was ein Kind lernen soll und darf.
Individualisierung
Eine weitere und bereits von den Alten Griechen praktizierte Form der Differenzierung ist die Individualisierung, eine Differenzierung von unten, also vom Kinde aus. Diese Individualisierung wird auch mit dem Begriff der „natürlichen Differenzierung” gekennzeichnet. Natürliche Differenzierung erlaubt den Kindern eigene Lernwege zu beschreiten, eigene Lösungswege zu denken. Ob ein Kind beispielsweise in Mathematik bei der Aufgabe 35 + 48 erst die Zehner und dann die Einer schrittweise addiert, ist irrelevant. Erst mittel- und langfristig stellen sich Fragen nach der Effizienz von Rechenwegen. Die inhaltlichen Anforderungen, die am Ende einer Klassenstufe erreicht werden sollen, bleiben zunächst einmal für alle gleich. Sie werden aber nicht von allen gleichermaßen erreicht, sondern auf unterschiedlichen Kompetenzniveaus. Auf welchen Wegen die Kinder dahin kommen, bleibt ein individueller Prozess. Dieser individuelle Weg kann von Erwachsenen angestoßen und begleitet, aber dauerhaft nicht vorgegeben werden. Ich habe bereits mehrfach erlebt, dass Kinder Rechenwege von Eltern gezeigt bekamen, die die Kinder kurzfristig behalten haben. Das auswendig gelernte Schema haben sie anwenden können, aber ein paar Tage später war dieses Schema aus dem Kopf. Hinzu kommt das weitaus größere Defizit(!!!), dass ein auswendig gelerntes Schema isoliert bleibt. Einem Kind war es beispielsweise nicht möglich, das von den Eltern eingetrichterte Schema auf eine natürliche Sachaufgabe (Rechengeschichte) zu übertragen. So bleiben Fähigkeiten voneinander isoliert. Für einen einfachen Test mag dieses (Halb-)Wissen vorerst zu einem halbwegs akzeptablen Ergebnis reichen. Hier wäre es günstiger, wenn dem Kind mehr Zeit gelassen worden wäre, um die Zusammenhänge eigenständig zu erkennen. Individualisiertes Lernen ermöglicht also jedem Kind, zu unterschiedlichen Zeitpunkten das zu lernen, was langfristig von ihm an Wissen und an Kompetenzen erwartet wird. Dass das für Eltern ein großes Problem darstellen kann, wenn sie sehen, dass ein anderes Kind schon viel mehr kann, als das eigene, soll an dieser Stelle erst einmal nicht weiter interessieren.
Bei der natürlichen Differenzierung werden Kinder nach unten und nach oben nicht mehr künstlich gedeckelt. Ein derartiger Unterricht erfordert vom Lehrer – und den Eltern – aber eine große Fehlertoleranz. Wenn ein Kind eigene Lernschritte gehen darf, muss es anfangs auch die Möglichkeit haben, Fehler machen zu dürfen, ohne dafür angemeckert zu werden, Umwege zu beschreiten und sich seine eigenen Lernmedien auszusuchen.
Individualisierung heißt also, dass man an den individuellen Stärken der Kinder und an ihren momentanen Möglichkeiten ansetzt. Vor allem für Kinder mit Lernschwächen ist das sehr wichtig!
In meiner persönlichen Praxis unterscheide ich zwei Formen der Individualisierung oder natürlichen Differenzierung.
- Zum Einen betrifft dies die Freiheit, sich Themen selbst auszuwählen, ohne jede Vorgabe des Lehrers (thematische Individualisierung). Der Lehrer kann dabei unterstützend helfen, Ideen nennen und gegebenenfalls Tipps vorschlagen. Vom klassischen Lehrerbild verabschiedet sich ein derart unterrichtender Lehrer. Er ist nicht mehr der Experte für jedes Thema. Er wird zum Lernbegleiter. Da die Wahl der Themen nicht mehr ausschließlich in seiner Hand liegen, wird er mit Fragen zu Themenbereichen konfrontiert, auf die er sich vorausschauend kaum vorbereiten kann. Hier hilft es, wenn der Lehrer ein breites Allgemeinwissen hat oder, wie ich aus persönlicher Erfahrung berichten kann, ein Faible für die Naturwissenschaften oder gar ein naturwissenschaftliches Studium hinter sich hat. Dieses Wissen ist zwar nicht notwendig, es hilft aber.
- Zum Anderen bezieht sich die natürliche Differenzierung auf die Art der Aufgaben („qualitative” Individualisierung), zum Beispiel: „Denke dir Aufgaben mit dem Ergebnis 66 aus.”, „Überlege dir 5 Nomen und erfinde damit eine eigene Gruselgeschichte.” Der Fantasie sind hierbei kaum Grenzen gesetzt. Vom Anspruch her sind solche Aufgaben oftmals höher als „unfreie” Aufgaben. Wie weitere solcher Aufgaben aussehen können, habe ich im Artikel Hausaufgaben vorgestellt.
Vorteile: Die Kinder arbeiten in der Regel auf ihrem individuell passenden Niveau. Auf Dauer wird sich ein Kind nicht selbst unterfordern, wenn es der dabei entstehenden Langeweile entkommen möchte. Die Befürchtung, dass die Kinder dann lieber nichts tun oder zu wenig, ist langfristig unbegründet zumal auch die soziale Gruppendynamik auf jeden Einzelnen einwirkt. Die Kinder werden sehr schnell sehr selbstständig. Der Lehrer gewinnt so viel Zeit, um sich einzelnen Kindern individuell zu widmen. Meist setze ich mich mit 3–4 Kindern zusammen, um zum Beispiel(!) einzelne Punkte „(nach zu) bearbeiten”, weil sie mir bei einzelnen Kindern gehäuft aufgefallen sind, während der Rest der Klasse mit anderen Aufgaben beschäftigt ist.
Nachteile: Der Lehrer hat keine Kontrolle über das, was die Kinder lernen (sollen?). Er vermittelt im herkömmlichen Sinne ja keinen „Stoff” mehr für alle gleichzeitig, sondern muss sich auf jedes Lernniveau einstellen. Dabei den Überblick zu behalten ist in der Tat eine Herausforderung. Um den Überblick zu behalten, sollte man auf verschiedene Techniken zurückgreifen, auf die ich u.a. hier eingehe Unterricht bei „uns”. Viele Eltern haben große Ängste mit individualisiertem Unterricht, weil sie in ihrer Kindheit keine Erfahrung mit einem derartigen Unterricht gemacht haben.
siehe auch: Fragen und Antworten zum Offenen Unterricht